Der Knabe träumte. Und in diesem Traum ging er einen weißen Gang entlang, in dem sich Türen zu beiden Seiten befanden. Er öffnete die erste und erblickte eine verhüllte Gestalt, die auf einem Tisch lag, der dem in seinem Zimmer ähnlich war. Er konnte nicht sagen, ob die Person lebte oder tot war, und etwas hielt ihn davon ab, das Zimmer zu betreten und sich die Sache genauer anzuschauen. Auf einem riesigen Relief an der Wand über dem Tisch waren zwei rote, ineinander verschlungene Drachen zu erkennen.
Nun war unser Held ein belesenes Kind – die Welt der Bücher war ihm von jeher eine Zuflucht vor seines Vaters Missachtung gewesen –, und so erkannte er wieder, was nur wenigen aufgefallen wäre: Die Drachen stellten das uralte Symbol von Temris dar, dem Gott des Krieges.
In dem Glauben zu träumen, kämpfte der Junge nicht gegen den eigentümlichen Drang an, dem langen Gang zu folgen. Je weiter er vordrang, umso mehr Altarzimmer mit verhüllten Gestalten entdeckte er. Und über einer jeden prangte das Symbol eines längst vergessenen Gottes an der Wand. Die meisten kannte der Junge, doch von anderen hatte er noch nie gehört.
Immer weiter ging er den Gang entlang, bis er schließlich zu einer ganz bestimmten Tür hingelenkt wurde. Er öffnete sie und trat ein.
Er bemerkte, dass überall in dem Raum eine dicke Staubschicht lag. An der Wand entdeckte er ein Symbol, das er nicht nur von seinen eigenen Studien her kannte, sondern auch im Hause seines Gastgebers schon gesehen hatte: die Katze von Altis.
Vorsichtig näherte er sich der eingehüllten Gestalt auf dem Altar. Dabei fiel ihm auf, dass der Staub ringsum aufgewirbelt worden war, wie auch die Seidentücher, in die man den Körper eingeschlagen hatte, nicht mehr so ordentlich drapiert waren wie bei den anderen. Kurz: Es schien, als habe sich die darunter liegende Person erst kürzlich bewegt.
Mit dem Mut des Träumenden berührte der Junge den feinen blauen Stoff, um ihn fortzuziehen. Im gleichen Moment griffen seine Finger ins Leere – die Gestalt war verschwunden, zurück blieb nur ein leerer Marmortisch.
Wie er auf die polierte Platte hinabschaute, fiel darauf ein Tropfen Blut aus seiner Wunde, gefolgt von einem Tropfen Öl aus der Lampe in seiner zitternden Hand. Die Tropfen liefen zusammen, wie sie es in der realen Welt niemals tun würden. Er konnte den Blick nicht davon abwenden, nicht einmal, als eine tiefe Stimme zu ihm sprach:
›Wer stört den Schlaf der Uralten, Knabe? Wer bedient sich der Kräfte, die jenseits jeden menschlichen Vermögens liegen? Auf Erden ist erneut große Magie am Werke, und die Schläfer werden in ihrer Ruhe gestört. Am Himmel reisen wieder Drachen mit dem Wind. Höre, dies ist nicht die rechte Zeit, um durch die Hallen der Götter zu wandeln und sie aufzuwecken.‹
Der Junge konnte die Stimme gleichermaßen spüren wie hören. Er wusste, dass er zitterte, aber er fühlte keine Furcht. Langsam antwortete er: ›Ich weiß nichts von Drachen oder großer Magie. Aber ich habe das Tuch berührt. Ich bin Terran.‹
Er hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, da fand er sich in dem Gästezimmer auf dem Altar liegend wieder. Was wohl sein Vater zu der ganzen Sauerei sagen würde, die er hier angerichtet hatte? Er zog sein Gewand aus und wischte die Marmoroberfläche so gut es ging damit sauber.
Nahe der Tür stand ein Wasserkübel, daneben lag ein frisches zusammengefaltetes Handtuch. Er schrubbte sich das Blut von den Händen und aus dem Gesicht, bevor er feststellte, dass sein Kopf völlig unverletzt war. Der alleinige Hinweis darauf, dass er geblutet hatte, fand sich auf seiner beschmierten Tunika, dem befleckten Handtuch und in dem hellroten Wasser.
Terran schüttete den Inhalt des Wasserkübels aus dem Fenster, versteckte sein Gewand und verstaute das Handtuch in seiner Reisetasche.«
Tris holte tief Luft. »Das war Terrans erste Begegnung mit Altis. In späteren Traumgesprächen mit dem Gott der Nacht wurde der Junge dann mit immenser Macht ausgestattet, neben der Winterseines Magie geradezu unbedeutend wirkte.
Einige Monate später begründete Terran, der sich nun die Stimme von Altis nannte, mithilfe seines Vaters eine neue Religion zu Ehren von Altis.«
»Verdammt«, fluchte Rialla. »Dann war Winterseine gar nicht derjenige, den wir suchten.« Sie musste daran denken, wie er der Forderung seines Sohnes nachgegeben hatte, als es Terran nach ihr verlangt hatte.
Tris schien laut zu überlegen: »Der einzige Beweis für die Echtheit des Traums wäre, dass Terrans Wunde kurz darauf verschwunden war. Ein kleiner Schnitt am Kopf blutet heftig, schließt sich andererseits aber auch recht schnell. Man hätte ihn leicht übersehen können. Mehr noch, ein Schlag auf den Kopf führt oft zu seltsamen, von der Realität kaum zu unterscheidenden Träumen.«
Rialla führte seinen Gedanken fort: »Und natürlich würde er in einer solchen Umgebung von alten Göttern träumen, zumal er ja eine Schwäche für Mythen und Legenden hat. Jedes Kind weiß, dass Öl und Blut verbreitete Komponenten für das Herstellen von Zaubern sind, ganz sicher jedoch weiß dies der Sohn eines Magiers.«
Tris nickte. »Wie ich erfahren habe, erlangen Menschenmagier ihre volle Macht erst mit Eintritt ins Erwachsenenalter. Wenn diese Kräfte just nach jenem Traum in ihm erwacht sind, würde er natürlich die alten Götter für das Phänomen verantwortlich machen und nicht seine persönliche Entwicklung. Besonders jemand wie Terran, dem man jahrelang eingebläut hat, dass er ein Nichtsnutz sei.«
Rialla legte das Kinn in die Hand und lächelte Tris schwach an, obwohl es zu dunkel in ihrem Versteck war, als dass er es sehen konnte. »Nun gut … All diese Punkte sprächen dafür, dass Terrans Macht das Produkt seiner ohnehin latent vorhandenen Magie ist – etwas, das uns wohlvertraut ist. Aber …«
»Aber«, setzte Tris ihren Gedanken fort, »da wäre noch die wundersame Heilung von Tamas’ Arm auf dem Weg zu Winterseines Burg. Bekanntlich konnte ich damals keinerlei Magie in der Umgebung ausmachen. Und so dachte ich, dass ein geübter Menschenmagier seine Kunst vielleicht in einer Art und Weise auszuüben vermag, die sich nicht feststellen lässt. Doch dann wiederum spürte ich die Magie, die Winterseines Grimoire innewohnte, schon in dem Moment, da wir sein Arbeitszimmer betraten.«
»Ich kann Terran empathisch nicht erfassen«, fügte Rialla hinzu. Und nach einer kurzen Pause: »Ich denke, dass Winterseine seinen Sohn für einen Götterpropheten hält. Wenn Winterseine mich berührt, kann ich ihn lesen, und derzeit ist eine unterschwellige Furcht in ihm, die nicht da war, als ich noch seine Sklavin gewesen bin. Ich schätze … er hat Angst vor Terran.«
»Und was meinst du? Glaubst du, Terran ist wirklich ein Prophet?«, fragte Tris.
»Ja.«
»Das denke ich ebenso.«
Rialla schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Wenn Terran tatsächlich die Stimme von Altis ist, wird die Invasion, der wir entgegensehen, von einem Gott gelenkt. Was mich zu der Frage bringt: Wie mächtig sind diese Götter überhaupt?« Sie war froh, dass ihre Stimme noch immer ruhig klang.
Tris zuckte die Achseln. »Hab mich nie mit einem unterhalten. Wir können hier warten, dann kannst du Terran persönlich danach fragen, wenn du willst. Ich jedenfalls halte nicht viel von davon. So viel ich weiß, waren diese Götter nicht mal mächtig genug, um den Magierkriegen Einhalt zu gebieten.«
»Vielleicht wollten sie es ja nicht«, meinte Rialla.
»Ja, eine drollige Vorstellung«, erwiderte Tris spöttisch.
Rialla lachte verhalten. »Wir werden Ren über alles informieren, dann soll er entscheiden, was zu tun ist.«
»Aber wird er uns die Geschichte auch glauben?«
Rialla lehnte sich seufzend zurück. »Keine Ahnung. Schätze, ich bin nicht wirklich zur Kundschafterin geeignet. Wenn wir in Sianim sind, erinnere mich bitte daran, dem Meisterspion mitzuteilen, dass er sich in Zukunft an die Experten wenden soll. Was mich betrifft, so habe ich es während einer einfachen Mission zur Informationsbeschaffung geschafft, niemand Geringeres als die Götter herauszufordern. Und das an der Seite eines Mannes, der behauptet, von einem obskuren, fast vergessenen Waldvolk abzustammen. Ich könnte sicherlich erklären, wie es dazu kommen konnte, wenn ich länger darüber nachdenke, aber im Moment ist mir gerade nicht danach …«