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Tris musste an die Pergamentseiten denken, die aus Winterseines Grimoire herausgerutscht waren, und begann zu grübeln.

Winterseine zögerte. »Nun, es gibt da einige alte Zaubersprüche, die mir mein alter Lehrer gegeben hat und die ich lieber nicht in den falschen Händen sehen möchte … Davon abgesehen behagt es mir nicht, dass ein anderer Zauberer mein Buch durchblättert.«

Diese Pergamentseiten mussten wichtig sein, dachte Tris hochzufrieden.

Terran wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Abendessen zu, und Tris nahm dies zum Anlass, vom Baum herabzusteigen. Leise zog er sich wieder in den Wald zurück und begab sich in den Schutz der Schatten.

Nachdenklich machte er sich wieder an die Suche nach dem Uriah. Das hatte nun Vorrang, da es so aussah, als müssten er und Rialla noch heute Nacht aufbrechen. Auf keinen Fall wollte er im Dunkeln in eine Horde dieser Scheusale hineinlaufen.

Er roch sie lange, bevor er sie sah. Er erinnerte sich daran, dass diese Kreaturen besonders geschärfte Sinne besaßen, und zog mithilfe seiner Magie die Dunkelheit noch enger um sich herum. Gleichzeitig dämpfte er damit jedes Geräusch, während er sich der Gruppe näherte.

Es waren sechs, und sie schliefen. Tris war erstaunt darüber, wie menschlich sie wirkten, während sie so dalagen. Bei seinen früheren Begegnungen mit ihnen war ihm die Ähnlichkeit gar nicht aufgefallen; sie bewegten sich nicht wie Menschen, genauso wenig wie sich ein Hund nicht mehr wie ein Wolf gebärdete. Hier, während ihrer nächtlichen Rast, sahen sie kaum anders aus als eine Gruppe verwahrloster Herumtreiber.

Tris erklomm einen weiteren Baum, von dem aus er die Uriah besser beobachten konnte. Alle waren männlich, und Tris hatte auch nichts anderes erwartet. Von weiblichen Uriah hatte er noch nie gehört.

Einer der Schlafenden benutzte die Wurzel einer Eiche als Kopfstütze. Darüber hing ein schwerer Ast, der ziemlich stabil wirkte. Tris schloss die Augen, tastete nach der Magie, die alle Bäume des Waldes miteinander verband, und suchte dann den Baum, um den es ihm ging. Als er ihn gefunden hatte, reiste er auf dem beständigen Magiefluss durch die Lüfte, bis er auf dem Ast stand, unter dem der Uriah schlief.

Als er hinabschaute, wurde ihm klar, dass er diesen Kreaturen nun näher war als je zuvor. Ihm lief es kalt über den Rücken. Irritiert über diese für ihn untypische Furcht, reckte er den Hals, bis zwischen ihm und dem Schlafenden kein Blatt mehr war. Das war der Moment, da er etwas an der Taille des Uriah bemerkte; um seine Hüften war locker ein stabiler Ledergürtel geschlungen. Die zerbrochene Schnalle einer Schwert- oder Messerscheide hing noch immer daran, wenngleich das Futteral selbst fehlte.

Das Ding dort unten war einst ein Mensch gewesen, egal, was man Tris über die Uriah erzählt hatte. Der Heiler in ihm erwachte. Wenn das so eine Art Seuche war, von der sie befallen worden waren, konnte er ihnen womöglich helfen.

Er konnte vielleicht einen Uriah mithilfe seiner Magie festsetzen, um ihn zu untersuchen, aber hier gab es eindeutig zu viele von ihnen, als dass es ihm möglich gewesen wäre, sich ihnen gefahrlos zu nähern. Derjenige, der direkt unter ihm lag, berührte mit seinem Kopf die Eichenwurzel. Tris hockte sich hin. Was er vorhatte, würde nicht so effektiv sein wie eine direkte Berührung, aber der Baum konnte ihm als Kanal für seine Magie dienen.

Tris klammerte sich noch fester an den Ast und suchte dann nach dem Magiefluidum, das allen lebenden Dingen innewohnte. Er folgte dem Magiestrom des Baumes bis hinab zu seinen Wurzeln, griff dann nach der Kreatur, die daneben schlief. Und berührte sie …

Zur gleichen Zeit erhob sich Rialla in ihrem Dornbeerenversteck auf Knie und Hände, als sie Tris’ unermessliche Qualen wahrnahm. Völlig unvorbereitet schrie sie auf. Sie suchte ihn, riss vor lauter Sorge all ihre Blockaden nieder.

Rialla. Sie drang nur schwach zu ihr durch, aber es war ganz eindeutig seine Stimme, die ihrem erschreckten Ruf antwortete.

Geht es dir gut?, fragte sie angstvoll, obwohl sie spürte, dass er keine körperlichen Schmerzen litt. Die ihn erfüllende Abscheu und der Schock, den er erlitten hatte, waren aber immer noch stark und erschwerten es ihr, seine Gedanken zu lesen.

Ja … reden später … wenn ich wieder da bin, kam es zurück.

Sie ließ ihn wissen, dass sie verstanden hatte, und zog sich wieder von ihm zurück. Einsam und besorgt erwartete sie seine Rückkehr.

Auch Tris hatte unbeabsichtigt aufgeschrien, woraufhin die Uriah erwacht waren. Alle. Erkennend, dass direkt über seinem Kopf lohnende Beute auf ihn wartete, machte sich der, der direkt unter Tris geschlafen hatte, daran, den Baum zu erklimmen. Dabei gab er ein seltsames Wimmern von sich.

Tris presste sein Gesicht gegen die raue Rinde der Eiche. Mehr als nach einem anderen Baum Ausschau zu halten, der für seine Zwecke nah genug stand, war ihm auf die Schnelle nicht möglich. Er fand eine weitere Eiche auf der entgegengesetzten Seite der Lichtung und benutzte seine Magie, um sich in ihre Baumkrone zu retten. Es waren insgesamt vier solcher Sprünge vonnöten, bis er die Uriah zu guter Letzt nicht mehr roch.

Baumrinde schrammte über seine Handinnenflächen, bevor er hart auf die Knie sackte und unkontrolliert würgte.

Der Uriah, den er berührt hatte, war ein Toter gewesen. Doch der Leichnam war mithilfe von Menschenmagie zu einem Wiedergänger gemacht worden – einer Magie jedoch, die so falsch, so verdorben gewesen war, dass es sich bei dem Versuch, sie zu erfassen und seinem Willen zu unterwerfen, angefühlt hatte, als berühre er geschmolzenen Stein.

Tris holte zitternd Luft und kam auf die Beine. Er suchte den nahen Bach auf und klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Der Temperaturschock half, seine Übelkeit zu lindern. Die Reise durch die Bäume war schwer und eine auszehrende Sache. Es kostete ihn zwei Versuche, den Tunnel zu formen, der ihn zurück zu Rialla bringen würde.

Unruhig ging Rialla vor der Dornbeerenhöhle auf und ab, als Tris mit seinem Ranzen zurückkehrte. Auf einem gegabelten Stock neben ihr steckten zwei prächtige Forellen.

»Bist du verletzt?« Sofort machte sie einen Schritt auf ihn zu.

»Nein, aber hungrig.«

Sie kniff die Augen zusammen, doch die Verbindung zwischen ihnen sagte ihr, dass er nicht log. Nachdem sie die Fische gefangen hatte, hatte sie außerdem genügend Holz für ein kleines Feuer zusammengeklaubt, auf das sie nun deutete. »Ist es sicher, hier ein Feuer zu machen? Ich weiß nicht, wie es bei dir ist, aber ich mag mein Essen gern gekocht.«

»Die Uriah sind zu weit entfernt, um den Bratenduft wahrzunehmen. Und unsere anderen Verfolger werden wohl schon schlafen.« Er entzündete das Feuer mit ein wenig Magie und setzte sich daneben.

»Unsere anderen Verfolger?«, fragte Rialla und schnappte sich das Messer, das Tris im Stiefel bei sich trug.

»Winterseine und Sohn kampieren einen strammen Morgenspaziergang von hier entfernt. Und ganz offensichtlich fällt es Terran nicht schwer, aus der Entfernung unsere Bewegungen zu verfolgen.« Er erzählte Rialla in wenigen Worten, was er mit angehört hatte.

»Und dabei hast du dich verletzt?«, fragte Rialla besorgt, während sie die Fische ausnahm. Sie entsorgte die Innereien hinter einem nahegelegenen Busch.

Tris schüttelte den Kopf. »Nein, das waren der Uriah und meine eigene Blödheit. Nachdem ich Winterseine und Terran entdeckt hatte, machte ich mich auf die Suche nach den Uriah. Es war eine Gruppe von sechs, und ich wollte sichergehen, dass wir ihnen auf unserer Flucht vor Winterseine nicht in die Arme laufen. Als ich sie aufspürte, dachte ich, ihnen mit einer Heilberührung helfen zu können. Und dabei habe ich mich verletzt.«

»Blödheit trifft es recht gut.« Rialla grinste zögernd. »Den ganzen Tag hast du mir Vorträge über die Uriah gehalten. Darf ich mich erkenntlich zeigen?«

»Nein«, sagte er. »Schätze, ich hab meine Lektion auf die denkbar schmerzhafteste Weise gelernt.«