Am Abend rasteten sie neben einem Bachlauf und aßen das, was das Lasttier an Vorräten noch mit sich führte. Der Eintopf war ungewürzt und hätte Rialla sicherlich besser geschmeckt, wenn die Ungewissheit ihr nicht den Magen zugeschnürt hätte.
Nach dem frugalen Mahl füllte Terran ein kleines Tongefäß mit Wasser aus dem Bach. Er kniete sich hin, stach sich mit seinem Messer in den Daumen und ließ einige Blutstropfen in das Gefäß fallen. Die Schale in Händen saß er sodann mit gekreuzten Beinen und geschlossenen Augen da.
Während er meditierte oder betete, wusch Rialla das Geschirr ab und verstaute es wieder auf dem Packpferd. Danach fesselte Winterseine ihr die Arme hinter dem Rücken und machte die Leine an einem Baum fest. Schließlich entrollte er seinen Schlafsack und schloss die Augen.
Rialla ging es zu schlecht, als dass sie hätte schlafen können, also lehnte sie ihre Wange gegen die raue Rinde und sah Terran teilnahmslos zu. Die untergehende Sonne spendete noch genügend Licht, um alles klar erkennen zu können.
Sie rutschte ein wenig hin und her, versuchte trotz der gefesselten Arme eine halbwegs bequeme Haltung zu finden, und wünschte sich, Tris wäre hier, um sie zu befreien. Sie kannte sich mit Peitschen gut genug aus, um zu wissen, dass Winterseines Schlag nur einen Striemen auf ihrem Rücken hinterlassen hatte, aber die Stelle rieb schmerzhaft gegen den Stamm des Baumes.
Plötzlich zerriss ein schrecklicher Schrei die Stille, der unmittelbar darauf von irgendwo jenseits ihres Lagers eine Antwort erhielt. Reflexartig zerrte Rialla an ihren Fesseln, als der Ruf eines dritten Uriah hinter ihr laut wurde.
Sie erstarrte und verfolgte einen sich bewegenden Schatten bei den nahegelegenen Büschen, bis sie nach und nach auch anderer Schemen gewahr wurde, die das Lager einkreisten. Erst jetzt wurde Rialla bewusst, dass sie die Kreaturen schon eine ganze Weile gerochen hatte, jedoch zu müde gewesen war, um in irgendeiner Form darauf zu reagieren. Tris hatte recht: Sie rochen wie verwesende Leichen.
Und sie bewegten sich weiter auf das Lager zu. Schweigend nun und lautlos. Es musste sich um eine weitaus größere Gruppe handeln als die, welche Tris aufgestöbert hatte. Rialla konnte mühelos zwanzig von ihnen ausmachen und vermutete, dass noch weitere in den Schatten lauerten.
Winterseine war beim ersten Schrei auf die Füße gesprungen. Jetzt stand er zwischen Rialla und dem kleinen Lagerfeuer, sodass sie nur seine umschattete Gestalt sah, die sich nach allen Richtungen umschaute.
Terran stellte das Tongefäß beiseite und erhob sich. Er wirkte seltsam entspannt. »Keine Sorge«, sagte er. »Sie sind gekommen, weil sie wissen, wer ich bin.«
Als er sprach, hielten die Kreaturen inne. Wäre Riallas Aufmerksamkeit nicht schon vorher auf sie gerichtet gewesen, sie hätte nicht sagen können, wo genau sich die Uriah im Dunkeln befanden.
»Arme Dinger«, meinte Terran im Plauderton. »Der erste Uriah wurde noch vor den Magierkriegen erschaffen, und das schwarze Geheimnis ihrer Schöpfung hätte eigentlich mit dem letzten der Großmächtigen sterben sollen. Aber nein, Geoffrey ae’Magi musste ja auch weiterhin mit den verdorbenen Künsten herumexperimentieren. Und so hat seine Pervertierung der Magie letztlich die alten Götter wiedererweckt.« Terran schüttelte den Kopf. »Und dabei bestand der Sinn, einen Erzmagier zu berufen, doch eigentlich darin, das Wirken verbotener Magie zu unterbinden. Hat offensichtlich nicht funktioniert.«
Terran deutete in Richtung der Uriah. »Und das ist der Grund, Vater, warum Altis den Westen unterwerfen muss. Für die Menschen stellt die Magie eine viel zu mächtige Waffe dar, um sie unkontrolliert zum Einsatz zu bringen.«
Rialla hatte den Eindruck, dass sich Winterseines Silhouette versteifte.
Die Uriah setzten sich wieder in Bewegung, näherten sich unaufhaltsam ihrem kleinen Lager. Die Pferde wurden unruhig und begannen, an ihren Zügeln zu zerren – Rialla tat es ihnen gleich.
»Arme Dinger«, sagte Terran noch einmal und hob mit nach außen weisenden Handflächen seine Arme über den Kopf. »Hört!« Seine Stimme war zu der des Propheten von Altis geworden und hallte bedrohlich in den Wäldern wider. Die Uriah unterbrachen erneut ihr langsames Vorrücken. Wären ihre Hände frei gewesen, Rialla hätte den ersten bereits berühren können, so nah war er ihnen gekommen – nicht dass sie das Bedürfnis dazu hatte.
»Erhöre mich, Altis, Herr der Nacht. Erlöse diese Kinder. Erlöse sie, Altis, denn sie leiden für die Sünden eines anderen.«
Durch die Reihen der Uriah ging eine Art Flüstern. Rialla stellten sich die Nackenhaare auf, als sie der Kreatur lauschte, die direkt neben ihr war.
Denn die Kreatur sprach, allerdings nicht auf Darranisch, sondern in der Gemeinsprache. »Bitte«, sagte sie, und immer wieder: »Bitte, bitte …« Rialla sah sich den Uriah näher an und bemerkte, dass er die Überreste einer Uniform trug, die zu den Wachen von Sianim gehörte. Sie erstarrte vor Entsetzen, als ihr klar wurde, dass dieser Untote einst ein Mensch gewesen war.
Rialla war keine Magierin, doch selbst sie spürte die Macht in Terrans Stimme, als er rief: »Erlöse sie, jetzt!«
Langsam erst, doch dann immer schneller, sanken die Uriah zu Boden. Wieder blickte sie zu der Kreatur, die direkt neben ihr gestanden hatte. Der Körper des Dings zuckte und warf sich herum, bis er sich in die Leiche eines Menschen zurückverwandelt hatte – einer Leiche im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung.
Still lag er da und atmete nicht.
Winterseine blickte auf all die Toten um sich herum und meinte: »Wir müssen das Lager woanders aufschlagen. Ich weiß nicht, wie du darüber denkst, aber ich werde bei dem Gestank kein Auge zumachen können.«
Rialla starrte auf den Toten neben sich. Uriah, so hieß es, waren so gut wie immun gegen Magie, doch Terran hatte gerade drei Dutzend von diesen dreimal verfluchten Gestalten hinweggerafft.
Sie wusste nicht, wie stark Tris war, aber sie bezweifelte, dass es auf dieser Welt irgendeine Magie gab – sei sie nun menschlich oder nicht –, die imstande war, Winterseines Sohn zu bezwingen. Wenn sie es nicht schaffte zu fliehen, bevor Tris zurückkehrte, würde es zu einer Konfrontation kommen, bei der sie und der Heiler nur verlieren konnten.
Tris konnte den Sylvanischen Pfad nicht für seine ganze Reise nutzen; diese Art der Magie kostete Kraft und wurde ineffektiver, als die Waldgebiete aus Eiben und Eichen allmählich in eine Region übergingen, in der hauptsächlich Weiden und Birken wuchsen. Und doch erreichte er Sianim in weniger als zwei Tagen; deutlich schneller, als jeder Mensch dies geschafft hätte.
In der Mitte eines riesigen Tals erhob sich ein steilwandiges Plateau. Zu der Stadt, die auf der Hochfläche errichtet worden war, führte nur ein einziger schmaler, von begrenzenden Mauern gesicherter Weg hinauf. Der Pfad war um diese Tageszeit recht bevölkert, und so war Tris gezwungen, den Aufstieg hinter einer Eselskarawane hinter sich zu bringen.
Nach der Ruhe im Wald erschienen ihm die Geräusche der Stadt ohrenbetäubend. Tris folgte den Eseln ins Zentrum von Sianim, wo sich die Märkte befanden. Dort versuchte er jemanden zu finden, mit dem er sich verständigen konnte. Er hatte fast sein ganzes Leben in Darran zugebracht und beherrschte Sylvanisch, Darranisch und nur ein paar wenige Brocken Gemeinsprache: eher ein Mischmasch aus Gesten und dem Dialekt der fahrenden Händler, doch die Kaufleute von Sianim sprachen ihre ganz eigene Mundart. So hoffte er, hier jemanden aufzutreiben, der Darranisch sprach, musste sich jedoch am Ende mit seinen schlechten Gemeinsprachekenntnissen durchschlagen.
Er gab es auf, Laeths Unterkunft zu finden, und konzentrierte sich stattdessen auf das »Verirrte Schwein«. Als drei von vier Leuten, die er fragte, in Richtung der gleichen verschlungenen Gasse deuteten, machte er sich auf den Weg.