Wieder wurde das Messer in die Luft geworfen, wo es sich mehrmals drehte, um von der geschickten Hand des Magiers wieder aufgeschnappt zu werden. Ein Blitz durchzuckte den Abendhimmel, während der Sturm sich unaufhaltsam näherte.
»Es tut mir leid, aber Terran scheint vergessen zu haben, dass auch andere bestimmte Ziele verfolgen«, fuhr Winterseine fort. »Er ist so in seinem eigenen Mythos gefangen, dass er darüber die eher weltlichen Probleme vergisst.« Traurig schüttelte er den Kopf. »Er war mir böse, weil ich Karsten ermordete, hoffte, ich würde aufgeben, als die Sache mit dem Sumpfbiest fehlschlug.«
»Aber die Ablenkung erfüllte ihren Zweck, und Karsten starb«, setzte Rialla hinzu.
Winterseine lachte auf. »Das Ding sollte Karsten erledigen, nicht als Ablenkung fungieren. Ich hatte es mit einem Fluchgelübde belegt, doch es konnte das Biest leider nicht davon abhalten, sich der Empathin zuzuwenden. Irgendwie hat Terran von meinen Plänen erfahren. Ich habe nicht verstanden, warum er wollte, dass wir eine halb ausgebildete Sklavin zu Karstens Feier mitbringen – nicht, bis die Kreatur in jener Nacht dich angriff. Auch dieses Mädchen war eine Empathin gewesen. Nachdem sie sich das Leben genommen hatte, muss Terran sich daran erinnert haben, dass du ebenfalls eine Empathin bist. Und so beschloss er, statt ihrer dich zu benutzen, um das Fluchgelübde zu brechen.« Je wütender Winterseine wurde, umso ruhiger wirkte er nach außen. »Er dachte wohl, ich würde nicht töten, wenn ich es eigenhändig tun müsste. Wie dumm von ihm. Was glaubt er denn, wie mein Vater zu Tode kam. Durch einen Jagdunfall?«
Winterseine sprach nun mehr zu sich selbst als zu Rialla. Sie hoffte, er würde irgendwann einen Grad an Unaufmerksamkeit erreichen, der es ihr erlaubte, sich davonzustehlen. In der Dunkelheit des Waldes vermochte sie sich eine ganze Weile vor ihm zu verstecken.
»Wenn Terran tot ist«, sinnierte Winterseine weiter, »werde ich wohl Tamas nach Sianim entsenden, um meinen Neffen Laeth zu vergiften. Auch Lord Jarroh könnte sich als Problem erweisen, aber einer seiner Diener hat bereits gewisse Aufgaben für mich erledigt, da kommt es auf eine mehr oder weniger auch nicht mehr an.« Winterseine grinste zufrieden, und Rialla lief es eiskalt über den Rücken. Sie war zu weit entfernt, um den Wahnsinn, der unter seiner Oberfläche lauerte, empathisch zu berühren, aber sie konnte ihn in den Augen des Mannes glitzern sehen – des Mannes, der so beiläufig davon sprach, sein eigen Fleisch und Blut zu ermorden.
»Cerric, unser kleiner Kronprinz, hat keine legitimen männlichen Erben. Nach zehn Jahren oder so, in denen ich als sein Reichsvikar die laufenden Geschäfte fortgeführt haben werde, wird Darran schon ganz nach meinen Vorstellungen umgestaltet worden sein. Und wenn Cerric dann unerwartet stirbt, ist es nur folgerichtig, dass ich ihm als König auf den Thron nachfolgen werde. Immerhin ist die Blutlinie meiner Familie mit der des königlichen Hauses verknüpft. Vielleicht wäre es aber auch besser, wenn Cerric einfach nur verrückt würde, sodass man ihn lebenslang wegsperren müsste. Nun ja, ich werde die Dinge einfach auf mich zukommen lassen …«
Winterseine schwieg, hielt das Messer einen Moment lang in seiner Hand, bevor er es in Richtung seines Sohnes warf. Es bohrte sich in den Boden, direkt neben Terrans Kopf. Er blickte wieder zu Rialla. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück, und Winterseine grinste wieder. Dann griff er nach einem Beutel, den er am Gürtel trug.
»Die Vorstellung, Terran zu töten, hat mir schon ein wenig Kopfzerbrechen bereitet. Gewiss hast du schon die Geschichten gehört, in denen es um die Wiederkunft der alten Götter geht?« Offenbar erwartete er eine Antwort von Rialla, grämte sich aber nicht weiter deswegen, als die nicht erfolgte.
»Unglücklicherweise sind diese Geschichten wahr«, plauderte Winterseine weiter. »Terran scheint tatsächlich eine Art Verbindung zum Gott Altis zu unterhalten. Zunächst dachte ich, es könnte mir nur zum Vorteil gereichen, einen so machtvollen Sohn zu haben.« Winterseine schüttelte den Kopf. »Aber ich kann ihm nicht einfach die Führung überlassen. Meine produktivsten Jahre habe ich damit zugebracht, mich dem ae’Magi zu beugen. Als der starb, stahl ich die Schlüssel zu den Meisterzaubern, damit ich nicht noch einmal in so eine Lage kommen würde. Und jetzt soll ich mich Terrans Kontrolle unterwerfen? Terrans?« Wütend spie er den Namen seines Sohnes aus, bekam sich aber rasch wieder in den Griff und setzte leise hinzu: »Ich entdeckte, dass Altis meinem Sohn zwar Macht verleiht, er aber nicht die ganze Zeit über ihn wacht. Der hier …« Winterseine zeigte Rialla einen Silberring, den er am Finger trug. Es war derselbe, den Tris und sie in dem ausgehöhlten Buch in seinem Arbeitszimmer entdeckt hatten. »Der hier lässt mich wissen, wann mein Sohn unter dem Schutz seines Gottes steht und wann nicht. Im Moment zum Beispiel ist er gänzlich wehrlos.
Würde ich Terran allerdings selbst töten, so wie im Fall von Karsten, würde Altis mich vernichten – herauszufinden, wer ein Messer geführt oder einen Trank verabreicht hat, ist doch ein Kinderspiel, selbst für eine Dorfhexe. Aber es gibt andere Mittel und Wege.« Während er sprach, hatte Winterseine den Beutel geöffnet und vier sorgfältig zusammengelegte Stoffbündel herausgeholt. Diese entfaltete er nun, doch es war zu dunkel für Rialla, um zu sehen, was für Ingredienzien sich darin verbargen. Nun schüttete Winterseine die Substanzen auf einem der Tücher zusammen.
»Natürlich werde ich wegen des Todes meines Sohnes am Boden zerstört sein. Man wird sich erzählen, er wurde von einer geflohenen und wieder eingefangenen Sklavin im Schlaf erstochen, nachdem er und sein Vater in der Wildnis ihr Lager aufgeschlagen hatten. Nun, es ist ja nicht so, als hätte ich ihn nicht vor so etwas gewarnt. Ich, der trauernde Vater, habe die Sklavin daraufhin selbstverständlich getötet. Aber Rache ist kein Ersatz für einen verlorenen Sohn.« Sein breites Grinsen strafte seinen kummervollen Ton Lügen. Dann sagte er etwas in einer Sprache, die Rialla nicht verstand, und blies die Substanzen, die sich auf dem Tuch befanden, in ihre Richtung.
»Nimm das Messer und töte ihn damit«, befahl Winterseine mit eiskalter Stimme.
Rialla machte einen Schritt auf Terran zu, dann hielt sie inne. Sie biss sich auf die Lippe in dem Versuch, sich gegen Winterseines Befehl aufzulehnen.
»Nimm das Messer und töte Terran«, wiederholte Winterseine und gestikulierte dazu.
Zwei weitere Schritte, dann umfasste ihre Hand den Griff des Messers. Es fühlte sich schwer an, schwerer als eine Waffe dieser Größe eigentlich wiegen sollte. Sie versuchte sie fallen zu lassen, doch ihre Finger klebten förmlich an dem Heft.
»Töte ihn.« Sie konnte Winterseine von ihrer Position aus nicht mehr sehen; ihr Blick war ganz auf Terrans Gesicht fixiert, doch von einem unheimlichen Zwang getrieben erhob sie das Messer. Sie hoffte, dass Tris nah genug war, um sie zu hören, also rief sie wortlos nach ihm.
Rialla? In den Sekunden, die sie brauchte, um neben Terran niederzuknien, war es Tris gelungen, die ganze Situation zu erfassen und … Rialla fühlte, wie sie von Stärke erfüllt wurde.
Schwankend richtete sie sich wieder auf und wich einen Schritt von dem schlafenden Propheten zurück. Dann warf sie das Messer ins Feuer. Sie fuhr herum und sah, wie Winterseine mit wutverzerrtem Gesicht auf die Füße sprang.
»Wer bist du, Sklavenmädchen?«, verlangte er zu erfahren, ohne zu wissen, dass er ihr mit ähnlichen Worten die gleiche Frage stellte wie schon vorher sein Sohn.
Sie lächelte ihn an. »Ich bin Rialla, Pferdeausbilderin aus Sianim.«
11
»Eine Pferdeausbilderin?«, fragte Winterseine lächelnd. »Nun, wer hätte das gedacht. Da hat Laeth doch tatsächlich eine Spionin aus Sianim in die Burg seines Bruder eingeschleust.«
»Ihr, der Ihr die Ermordung Eures eigenen Sohns geplant habt, besitzt wohl kaum das Recht, Euch in dieser Sache zum Richter aufzuschwingen«, bemerkte Rialla trocken. In diesem Moment begann es zu regnen.