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Für einen Moment erstarrte Winterseine. Und es war dieser Moment, den Rialla für sich nutzte. Mit einer Bewegung, die sie unzählige Male geübt hatte, griff sie nach seinem Handgelenk und verdrehte es so, dass er seinen Ellbogen nicht mehr einsetzen konnte. Blitzschnell trat sie an seine Seite und platzierte die andere Hand auf seinem Schulterblatt, drückte ihn nach vorn und Richtung Boden. Nachdem sie ihm die Beine weggetreten hatte und er auf dem Bauch gelandet war, setzte sie ihm einen Fuß in den Nacken und drückte so sein Gesicht in den Schlamm. Den Arm hatte sie ihm gleichzeitig schmerzvoll auf den Rücken gebogen.

Sie schaute zur Seite und wischte sich an ihrer Schulter Schweiß und Regen aus dem Gesicht.

Tris, sagte sie. Du musst die Verbindung zwischen uns lösen. Wenn nicht, kann es sein, dass du von der Gegenreaktion mitgerissen wirst. Ich kann nicht uns beide davor schützen.

Rialla!, erwiderte er aufgeregt, doch sie hatte ihn schon ausgesperrt.

Davon ausgehend, dass Tris ihre Warnung beherzigte, wandte sie sich wieder Winterseine zu. Er hatte es aufgegeben sich zu wehren, als ihm klar geworden war, dass er sich dabei am Ende nur die Schulter auskugeln würde. Noch immer umklammerten Riallas Finger sein nacktes Handgelenk.

Zunächst widmete sie sich seinen seelischen Erschütterungen, und zwar denen, die am offensichtlichsten dalagen. Winterseine würde ahnen, was sie vorhatte; sein Geist war geschult und geordnet. Allein sein unterschwelliger Wahnsinn – Wut, die durch die Befürchtung befeuert wurde, dass sein Sohn ihn kontrollieren könnte –, konnte ihr als Waffe dienen, um ihn in die Knie zu zwingen.

Sie versuchte all die verirrten Gedanken zu ignorieren, die sich darunterzumischen drohten. Rialla war allein an Emotionen interessiert. Sie fand seine allerersten Ängste: sein Sohn, der aus seinem Zimmer stürzte, bleich und zitternd, doch glühend vor Macht … das erste Mal, als sich Terran gegen seinen Vater erhob und Winterseine einlenken musste, wohl wissend, dass er in einem Machtkampf mit ihm den Kürzeren ziehen würde … Und eben diese Gefühle warf sie auf Winterseine zurück. Gerade rechtzeitig stimmte sich ihr eigener Herzschlag auf den seinen ein. Nun durchlebte er die Pein, die seine Erinnerungen hervorgebracht hatte, weil Rialla sich seine eigenen Gefühle zunutze machte. Sie konnte sich ihnen allerdings nicht entziehen wie im Fall des empathischen Sumpfwesens in der Nacht, als Karsten starb.

Rialla nahm seinen Schmerz, den die zurückliegenden Gedanken auslösten, auf und verstärkte ihn, trieb Winterseine immer weiter in seinen eigenen Albtraum hinein. Sie grub tiefer, fand alte Kränkungen und Verunsicherungen. Sie erreichte den Jungen, der er einst gewesen war, verletzbar gegenüber Spott und Demütigungen, und präsentierte ihm diese Momente noch einmal.

Erst als er gequält aufschrie, fachte sie auch das Feuer seiner Rage an. Es war zuvor nur ein wohlkontrolliertes Flämmchen gewesen, das ihn vor seinen Urängsten behütet hatte. Durch Riallas Eingreifen wurde es nun zu einem lodernden Brand, der jeden klaren Gedanken verzehrte.

Doch das war noch nicht genug.

Sie fügte ihr eigenes Grauen hinzu: die Erinnerung an den Kampf mit der Sumpfkreatur, die Angst davor, wieder versklavt zu werden. Sie wühlte tiefer, stieß auf die Hilflosigkeit im Angesicht ihrer gnadenlosen Entführer, die elendige Furcht davor, geschlagen zu werden, in dem schrecklichen Wissen, wie weh es tat … die tiefe, seelenverschlingende Trauer darüber, unter Fremden leben zu müssen, ohne die vertrauten Familienbande und ohne Hoffnung darauf, je etwas daran ändern zu können … Ein Teil von Rialla realisierte, dass der letzte Gedanke weder von ihr noch von Winterseine stammte, doch sie war zu eingebunden in das, was sie tat, als dass sie nach seinem Ursprung forschen konnte. Selbst als sie ihre Emotionen auf Winterseine projizierte, spürte sie, wie sehr er darum kämpfte, die Kontrolle wiederzuerlangen.

Wenn sie den Mann jetzt nicht erledigte, würde er sie töten. Und damit wäre es noch nicht vorbei. Tris würde Winterseine entgegentreten, und es stand zu befürchten, dass der Heiler der Macht des Magiers nicht das Geringste entgegenzusetzen hatte.

Bebend griff sie nach dem geheimen Ort, den sie aus Angst um ihre geistige Gesundheit tief in sich verborgen gehalten hatte. Hier fanden sich unter anderem die Gefühle und letzten Gedanken ihrer Familie wie auch die Qualen, die den Tod von Jarrohs Kindersklavin begleitet hatten. Sie schob den Schattenvorhang beiseite, zog einen Strang aus dem verschlungenen Knäuel aus purem Grauen und warf ihn gezielt auf Winterseine. Es kostete sie unendliche Kraft, dabei auf Distanz zu bleiben, doch sie wusste, was nun kam, würde es ihr erlauben, schneller mit dem Schmerz und der Furcht ihres Feindes umzugehen.

Nach und nach fütterte sie ihn mit ihrer Pein, und langsam, aber sicher spürte sie, wie Winterseines Widerstand nachgab. Sie musste ihn brechen und aus dem Lager verschwinden, bevor Terran wieder erwachte.

Für einen Moment durch ihre eigenen Ängste abgelenkt, griff sie nach einer letzten, tief vergrabenen Erinnerung.

Dieses Mal entglitt ihr die dünne Rettungsleine der Besonnenheit, die es ihr gestattet hatte, sich auf Abstand von all dem Schmerz zu halten, und sie verfing sich in einem Dickicht aus Emotionen. Erst als sie sich ihren Weg hinauskämpfte, wurde ihr klar, warum es so schwierig gewesen war, die Distanz zu wahren.

Allein, selbst unter seinesgleichen. Ausgeschlossen sowohl durch seine Weigerung, sich in den eigenen Handlungen durch Furcht leiten zu lassen, als auch aufgrund einer Gabe, die schon seit langer Zeit unter seinen Leuten im Aussterben begriffen war. Ein anderer wäre vielleicht nicht dafür verstoßen worden, dass er ein Menschenkind gerettet hatte, aber er war anders. Und deshalb hatte sich für ihn auch kein Fürsprecher gefunden.

Rialla hatte sich in Tris’ Erinnerungen verfangen!

Panisch versuchte sie sich daraus zu befreien. Und musste sich gleichzeitig all dessen erwehren, das sich nun anschickte, durch die Lücke in ihrer Verteidigung zu stoßen. Sie musste sich unbedingt von ihm lösen, oder sie würde von dem Mahlstrom verschlungen werden, den sie in Winterseines Geist heraufbeschworen hatte. Doch dazu musste sie Tris erst einmal finden …

Und dann, als die einzig verbliebene Bastion gegen Furcht und Schmerz schon zu fallen drohte, verlor Winterseine seinen Kampf. Das wachsende Miasma des Grauens, dem sie sich entgegengestellt hatte, warf Rialla mit unvorstellbarer Kraft zurück.

Ohne zu überlegen gab sie den Versuch auf, ihren Schutzschild wieder zu errichten, und versuchte Tris so lange zu beschirmen, bis er sie verlassen konnte. Offensichtlich wusste er, was sie tat, denn kurz bevor sie sich im Sturm der Emotionen verlor, hallten in ihr seine Worte wider:

Es tut mir leid, Geliebte. Seine Gedankenstimme war durch denselben Schmerz zerrissen, der sie durchzuckte. Ich hatte versucht, es dir zu sagen, aber … ich kann dich nicht mehr verlassen.

Am Rand des Waldes sank der Heiler lautlos auf ein Bett aus Laub aus längst vergangenen Jahren. Der Wallach, zu wohlerzogen, um seinen Reiter im Stich zu lassen, knabberte eine Weile zärtlich, wenngleich erfolglos an Tris’ Wange und begann dann zu grasen, während um sie herum der Regen fiel und Blitze den Himmel über ihnen durchzuckten.

Rialla schrie auf, als sie sich im Sturm der Emotionen verlor. Etwas schlug hart gegen ihre Schulter, warf sie zurück und fort von Winterseines zuckendem Körper. Sie fiel zu Boden, rollte sich zusammen wie ein Fötus und wimmerte ob der Schmerzen in ihrem Kopf. So nah war sie einer Ohnmacht, dass sie keinen Unterschied mehr machen konnte zwischen den schlimmen Kopfschmerzen und der weitaus gefährlicheren Tortur, die sie schier zerrissen hatte.

Auf dem Boden liegend hörte Rialla das heisere Keuchen Winterseines und begann zu zittern, als ihr Körper nun auf die Belastung des Kampfes reagierte. Ein Teil von ihr begriff, was geschehen sein musste: Terran hatte sie von Winterseine fortgerissen in dem Moment, da sie kurz davor war, ihm in den unendlichen Wahnsinn zu folgen.