Das obere Abteil war ein Erholungsraum für den einzigen Piloten des Schiffs gewesen. Trainingsmaschinen und ein Leseschirm waren herausgerissen worden, um Platz für drei zusätzliche Crashliegen zu schaffen. Der-zu-den-Tieren-spricht kletterte in eine davon.
Louis folgte ihm einhändig die Sprossen hinauf. In der anderen hielt er deutlich sichtbar das Schwert. Er schloß den gewölbten Deckel über der Koje und deaktivierte die Waffe.
Die Crashliege wurde zu einem großen verspiegelten Ei. Im Innern würde die Zeit stehenbleiben, bis Louis das Stasisfeld wieder abschaltete. Falls das Schiff mit einem Antimaterie-Asteroiden zusammenstieß, würde selbst die General-Products-Zelle sich in ionisierten Dampf auflösen. Die Koje des Kzin würde bei diesem Zusammenstoß nicht einmal einen Kratzer abbekommen.
Louis atmete auf. Alles war ihm wie ein ritualisierter Tanz vorgekommen, mit einem verdammt realen Hintergrund. Der Kzin hatte wirklich allen Grund, dieses Schiff zu stehlen. Der Tasp hatte daran nichts geändert. Der-zu-den-Tieren-spricht durfte keine weitere Gelegenheit erhalten.
Louis kehrte in die Pilotenkabine zurück und schaltete die Bordzu-Bord-Kommunikation ein. »Kommt jetzt herein.«
Etwas über hundert Stunden später hatte Louis Wu das Sonnensystem bereits hinter sich gelassen.
KAPITEL FÜNF
ROSETTE
In der Mathematik des Hyperraumes existieren Singularitäten. Jede genügend große Masse im Einsteinschen Universum wird von einer derartigen Singularität umgeben. Außerhalb dieser Singularitäten können Raumschiffe schneller als das Licht reisen. Innerhalb dieser Bereiche verschwinden sie, wenn sie es versuchen.
Die Long Shot befand sich ungefähr acht Lichtstunden von der Sonne entfernt und hatte sich deren Singularität entzogen.
Louis Wu befand sich im freien Fall.
Er spürte Anspannung in den Lenden und Unbehagen im Zwerchfell, und sein Magen drohte sich umzustülpen. Die Sinneseindrücke würden vergehen. Er verspürte einen paradoxen Drang zu fliegen…
Louis war schon häufig in der Schwerelosigkeit geflogen, in der großen transparenten Blase des Outbound Hotels im Orbit des irdischen Mondes. Hier, an Bord der Long Shot, würde er sicher irgendein lebenswichtiges Ausrüstungsteil beschädigen, sobald er auch nur die Arme ausbreitete.
Er hatte das Schiff mit einer Beschleunigung von unter zwei g aus dem Sonnensystem gesteuert. Für eine Zeitspanne von fünf Tagen hatte er auf seiner Liege gearbeitet, gegessen und geschlafen. Trotz der hervorragenden hygienischen Einrichtungen der Liege fühlte er sich schmutzig und ungepflegt. Trotz fünfzig Stunden Schlaf war Louis vollkommen erschöpft.
Louis hatte eine dumpfe Vorahnung, was seine Zukunft betraf. Für ihn würde die Expedition größtenteils aus Unbehagen bestehen.
Die Schwärze des Alls unterschied sich nicht sehr vom Nachthimmel auf dem irdischen Mond. Im Sonnensystem trugen die Planeten nicht viel zur Helligkeit bei, wenn man das Firmament mit bloßem Auge betrachtete.
Ein besonders heller Stern glänzte im galaktischen Süden. Dieser Stern war die Sonne.
Louis betätigte die Schwungradkontrollen. Die Long Shot drehte sich um ihre Achse, und Sterne glitten unter Louis’ Füßen hinweg.
Siebenundzwanzig-dreihundertundzwölf-eintausend — so lauteten die Koordinaten, die Nessus ihm gegeben hatte, ehe Louis den Deckel über der Liege des Puppenspielers geschlossen hatte. Die Koordinaten bezeichneten die Position, wo sich die Völkerwanderung der Puppenspieler augenblicklich befand. Louis wurde bewußt, daß die Koordinaten nicht auf einem Kurs zu einer der Magellanschen Wolken lagen. Der Puppenspieler hatte ihn belogen.
Allerdings, dachte Louis, liegen die Koordinaten ungefähr zweihundert Lichtjahre vom irdischen Sonnensystem entfernt. Und sie lagen auf der Verlängerung der galaktischen Achse. Vielleicht hatten die Puppenspieler sich entschlossen, die Milchstraße auf dem kürzesten Weg zu verlassen und dann über der Ebene der Galaxis die kleine Magellansche Wolke anzusteuern. Auf diese Weise würden sie interstellare Trümmer vermeiden: Dunkelsonnen, Staubwolken und Wasserstoffkonzentrationen…
Das alles war nur von nebensächlichem Interesse. Louis’ Hände schwebten über dem Kontrollpunkt wie die eines Pianisten, der auf seinen Einsatz wartete.
Und sanken herab.
Die Long Shot verschwand.
Louis vermied es, auf den transparenten Boden zu sehen. Er wunderte sich schon längst nicht mehr, warum all die durchsichtigen Flächen nicht mit Blenden oder Jalousien versehen waren. Der Anblick des Blinden Flecks hatte schon manchen Piloten in den Wahnsinn getrieben, doch es gab auch Männer, die ihn ertrugen. Der erste Pilot der Long Shot mußte so ein Mann gewesen sein.
Louis konzentrierte sich statt dessen auf den Massendetektor: eine transparente Kugel über der Instrumentenkonsole. Von ihrem Mittelpunkt ging eine Reihe blauer Linien aus. Der Detektor war ungewöhnlich groß, trotz der beengten Verhältnisse in der Kabine. Louis lehnte sich zurück und beobachtete die Linien.
Sie veränderten sich deutlich sichtbar. Louis konnte eine Linie fixieren und zusehen, wie sie langsam über die Kugelschale wanderte. Es war ein ungewöhnlicher und entnervender Anblick. Bei den gewohnten Hyperraumgeschwindigkeiten blieben die Linien stundenlang an der gleichen Stelle fixiert.
Louis’ linke Hand schwebte immer in der Nähe des Notschalters.
Die Küchenautomatik zu seiner Rechten lieferte merkwürdig schmeckenden Kaffee und, später, eine Mahlzeit, die sich in seiner Hand in Schichten aus Fleisch, Käse, Brot und irgendeinem Blattsalat auflöste. Die Reprogrammierung des Automaten war anscheinend seit Jahrhunderten überfällig. Radiallinien im Massendetektor wuchsen zu breiten Bändern, bewegten sich wie die Sekundenzeiger einer Uhr hinauf zum Scheitelpunkt und schrumpften zu einem Nichts zusammen. Eine verwaschene blaue Linie am Boden der Kugel wurde länger und länger, wuchs immer weiter… Louis hämmerte auf den Notschalter.
Ein roter Riese glühte unter seinen Füßen.
»Zu schnell«, knurrte Louis, »tanj zu schnell!« In einem Schiff mit normalem Hyperraumantrieb mußte man den Massenanzeiger nur alle sechs Stunden oder so überprüfen. In der Long Shot durfte man das Ding nicht eine Sekunde aus den Augen lassen!
Louis starrte auf die hellrote Scheibe vor dem sternenübersäten Hintergrund.
»Tanj! Wir sind bereits jenseits des Bekannten Weltraums!«
Er drehte das Schiff, um die Sterne zu betrachten. Ein fremder Himmel strömte vorbei. »Sie gehören mir, mir ganz allein!« kicherte Louis und rieb sich die Hände. Im Sabbatjahr war Louis sein eigener Entertainer.
Die rote Riesensonne kam wieder in Sicht, und Louis schwenkte das Schiff noch einmal um neunzig Grad. Er war mit der Long Shot zu dicht an den Stern gekommen. Jetzt mußte er einen Ausweichkurs steuern.
Sie waren erst anderthalb Stunden im Hyperraum gewesen.
Weitere drei Stunden im Hyperraum, und Louis brach erneut hervor.
Die fremden Sterne machten ihm nichts aus. Auf der Erde waren über den hell erleuchteten Städten überhaupt keine Sterne zu sehen, und Louis war als Flatlander großgeworden. Er hatte keine Sterne gesehen, bis er sechsundzwanzig war. Er überprüfte die Instrumente, um sich zu vergewissern, daß er im freien Raum war, schloß die Deckel über den Konsolen und streckte sich schließlich.
»Wow! Meine Augen fühlen sich an wie gekochte Zwiebeln!«