Eine Kielwoge folgte den drei Rädern, eine Front aus Schallwellen, die hinter den Rädern auf die Wolkendecke donnerten. Voraus durchbrach nur ein einziges Detail die Eintönigkeit des unendlichen Horizonts. Nach Louis’ Meinung war es entweder ein Berg oder ein sehr weit entfernter, sehr heftiger Sturm. Er war so groß wie ein Stecknadelkopf am Ende eines ausgestreckten Arms.
Der-zu-den-Tieren-spricht durchbrach die Stille. »Ein Riß in der Wolkendecke, Louis. Voraus und spinwärts.«
»Ich sehe ihn.«
»Sehen Sie, wie das Licht hindurchschimmert? Das Land unten drunter scheint sehr viel Licht zu reflektieren.«
Es stimmte. Die Ränder des Risses in der Wolkendecke schimmerten hell. Hmmm… »Kann es sein, daß wir wieder über nacktes Fundamentmaterial fliegen? Es wäre bisher der größte Bruch in der Landschaft.«
»Ich will mir das von nahem ansehen.«
»In Ordnung«, sagte Louis.
Er beobachtete, wie der kleine Punkt des Flugrads von Der-zuden-Tieren-spricht einen wilden Bogen nach Spin beschrieb. Bei Mach 2 würde der Kzin nicht mehr als einen Blick auf das Land unter den Wolken erhaschen…
Louis hatte ein Problem. Wo sollte er hinsehen? Auf den silbernen Punkt des Flugrads — oder auf das kleine orangefarbene Katzengesicht über der Konsole? Das eine war real, das andere detailliert. Beide boten Informationen, aber von verschiedener Art.
In der Theorie war keine der beiden Möglichkeiten befriedigend. In der Praxis bemühte sich Louis natürlich, beides im Auge zu behalten.
Er sah, daß der Kzin über dem Riß in der Wolkendecke war…
Sein Jaulen drang aus dem Interkom. Der silberne Punkt leuchtete plötzlich heller, und das Gesicht von Der-zu-den-Tieren-spricht erstrahlte Weiß. Der Kzin hatte die Augen fest geschlossen. Der Mund stand weit offen. Der Kzin schrie.
Das Bild verblaßte. Der-zu-den-Tieren-spricht hatte den Riß überquert. Er hielt einen Arm vor das Gesicht. Das orangefarbene Fell war schwarz versengt.
Unter dem herannahenden Flugrad des Kzin leuchtete ein heller Punkt in der Wolkendecke… als folgte ein Scheinwerfer der Flugbahn des Kzin.
»Sprecher!« rief Teela. »Können Sie sehen?«
Der-zu-den-Tieren-spricht hörte ihren Ruf und nahm den Arm vom Gesicht. Das Fell war auf einem breiten Streifen um die Augen unverbrannt. Überall sonst war es aschschwarz. Der-zu-den-Tierenspricht öffnete die Augen, blinzelte, öffnete sie erneut. »Ich bin geblendet!« rief er.
»Ja, aber können Sie sehen?«
In seiner Besorgnis über den Kzin war Louis die Absonderlichkeit dieser Frage gar nicht aufgefallen, doch irgend etwas in ihm bemerkte den Tonfall ihrer Stimme: Die Sorge, und darunter die Andeutung, daß Der-zu-den-Tieren-spricht die falsche Antwort gegeben hatte und eine zweite Chance erhalten sollte.
Es war keine Zeit. Louis rief: »Sprecher! Koppeln Sie Ihr Rad an meines! Wir müssen in Deckung!«
Der-zu-den-Tieren-spricht tastete über seine Konsole. »Erledigt. Louis, von welcher Deckung reden Sie?« Schmerz verzerrte seine Stimme.
»Zurück in die Berge.«
»Nein. Wir würden zuviel Zeit verlieren. Louis, ich weiß, was mich angegriffen hat. Wenn ich mich nicht irre, sind wir in Sicherheit, solange wir über der geschlossenen Wolkendecke bleiben.«
»Oh?«
»Sie müssen sich das näher ansehen.«
»Sie brauchen medizinische Hilfe.«
»Die brauche ich tatsächlich, aber dazu müssen wir zuerst einen sicheren Landeplatz finden. Sie müssen dort heruntergehen, wo die Wolken am dichtesten sind…«
Unter den Wolken war es nicht sehr dunkel. Ein wenig Licht kam durch, und ein guter Teil davon wurde auf Louis Wu reflektiert. Grell und… feindselig.
Das Land war eine sanft gewellte Ebene. Kein nacktes Ringweltfundament, sondern Erdboden und Vegetation.
Louis ging tiefer und blinzelte wegen der Helligkeit.
… Eine einzelne Pflanzenspezies, gleichmäßig über das Land verteilt, von hier bis zum unendlichen Horizont. Jede der Pflanzen besaß eine einzelne Blüte, und jede Blüte drehte sich und folgte Louis, als er tiefer ging. Eine gewaltige Audienz, schweigend und aufmerksam.
Louis landete und stieg neben einer der Pflanzen ab.
Sie besaß einen knorrigen grünen Stamm, einen Fuß hoch. Die einzige Blüte war so groß wie das Gesicht eines Mannes. Die Rückseite der Blüte war von Fasern wie von Venen oder Sehnen überzogen, und die Innenseite… die Innenseite war ein glatter, konkaver Spiegel. Aus der Mitte des Spiegels ragte ein kurzer Stengel, der in einem dunkelgrünen Kolben endete.
Alle Blumen in Sichtweite beobachteten Louis. Er wurde in grellem Licht gebadet. Louis wußte, daß sie ihn zu töten versuchten, und er blickte ein wenig unruhig nach oben. Doch die Wolkendecke war unverändert dicht.
»Sie hatten recht«, sagte er in das Mikro seines Interkoms. »Es sind Slaver-Sonnenblumen. Wenn nicht die Wolkendecke gewesen wäre, hätten sie uns im gleichen Augenblick getötet, in dem wir über die Berge gekommen sind.«
»Gibt es irgendwo Deckung, wo wir uns vor ihnen verstecken können? Eine Höhle oder so etwas?«
»Ich denke nicht. Das Land ist zu eben. Die Spiegelblumen können das Licht nicht besonders stark fokussieren, aber es ist trotzdem verdammt grell hier unten.«
Teela schaltete sich ein. »Um Himmels willen, was ist nur los mit euch beiden? Louis, wir müssen landen! Der-zu-den-Tieren-spricht hat starke Schmerzen!«
»Ich habe wirklich starke Schmerzen, Louis.«
»Dann würde ich sagen, wir riskieren es. Kommt herunter, alle beide. Hoffen wir nur, daß die Wolkendecke bleibt.«
»Gut!« Er sah, wie Teelas Bild auf der Interkomkonsole geschäftig wurde.
Louis verbrachte eine Minute damit, die Räume zwischen den Blumen abzusuchen. Es war genauso, wie er angenommen hatte. Kein anderes Lebewesen regte sich im Reich der Spiegelblumen. Keine kleinere Pflanze wuchs zwischen den Stengeln. Nichts flog. Nichts grub sich durch das verbrannt aussehende Erdreich. Die Blumen selbst zeigten keine Flecken, keine Läuse, keine Pilze, nichts, das nach einer Krankheit ausgesehen hätte. Wenn eine von ihnen krank wurde, würden die anderen den Rest erledigen.
Die Spiegelblüte war eine schreckliche Waffe. Ihr Sinn lag in erster Linie darin, das Sonnenlicht auf den grünen photosynthetischen Knoten im Zentrum zu fokussieren. Aber sie konnte es auch auf ein pflanzenfressendes Tier oder Insekt richten. Die Spiegelblumen verbrannten all ihre Feinde. Alles, was lebt, ist der Feind einer Pflanze, die sich durch Photosynthese ernährt — und alles, was lebte, wurde auf diese Art und Weise zu Dünger für die Spiegelblumen.
»Wie sind sie nur hergekommen?« fragte sich Louis. Spiegelblumen konnten nicht mit weniger exotischen Pflanzen koexistieren. Die Spiegelblumen waren zu mächtig. Also stammten sie unter keinen Umständen vom Heimatplaneten der Ringweltkonstrukteure.
Die Erbauer hatten anscheinend nahegelegene Sterne nach nützlichen oder dekorativen Pflanzen abgesucht.
Vielleicht waren sie sogar bis nach Silvereyes im Siedlungsgebiet der Menschen gekommen. Anscheinend hatten sie entschieden, daß Spiegelblumen dekorativ waren.
»Sie hätten die Blumen sicherlich irgendwie eingezäunt. Jeder Idiot hätte soviel Verstand besessen. Meinetwegen ein Stück Land mit einer hohen Wand aus Fundamentmaterial ringsum, damit sie nicht ausbrechen können.
Es scheint nicht funktioniert zu haben. Irgendwie hat sich ein Samenkorn verselbständigt. Gott weiß, wie weit sie sich inzwischen ausgebreitet haben«, sagte Louis zu sich selbst. Er erschauerte. Das mußte der »helle Fleck« sein, den Nessus und er am Horizont gesehen hatten. Soweit das Auge reichte, gab es kein lebendes Wesen, das die Spiegelblumen herausforderte.
Mit der Zeit — vorausgesetzt, man ließ ihnen die Zeit — würden die Spiegelblumen die gesamte Ringwelt beherrschen.