Im Licht, das aus dem riesigen Panoramafenster fiel, nahm der Kzin das Slaver-Grabwerkzeug von der Schulter. Louis kannte das Prinzip des Desintegrators. Objekte innerhalb des variablen Strahls erhielten plötzlich eine positive Ladung, die stark genug war, um alles in Atome zerfallen zu lassen. Die Puppenspieler hatten einen zweiten, parallel gerichteten Strahl hinzugefügt, der die Ladung von Protonen unterdrückte. Louis hatte ihn nicht benutzt, als er das Loch im Spiegelblumenfeld gegraben hatte, und er wußte, daß der zweite Strahl auch hier nicht erforderlich war.
Er hätte wissen müssen, daß Der-zu-den-Tieren-spricht ihn trotzdem einsetzen würde.
Zwei wenige Zoll voneinander entfernte Punkte auf dem großen achteckigen Fenster vor ihnen erhielten mit einem Mal entgegengesetzte Ladungen mit einer Potentialdifferenz dazwischen.
Es gab einen blendenden Blitz. Louis schlug die Hände vor die schmerzenden, tränenden Augen. Das Krachen des Donners erfolgte im gleichen Augenblick, und es war trotz der Schallfalte ohrenbetäubend.
In der darauffolgenden betäubten Stille spürte Louis, wie sich sandige Partikel schwer auf seinen Hals, auf Schultern und Arme und die Rückseiten der Hände legten. Er hielt die Augen weiter geschlossen.
»Sie konnten es nicht lassen«, sagte er.
»Funktioniert ganz hervorragend. Ein nützliches Werkzeug.«
»Herzlichen Glückwunsch. Zielen Sie nicht auf Daddy damit, weil Daddy sonst nämlich sehr böse wird.«
»Werden Sie nicht übermütig, Louis.«
Louis’ Augen hatten sich wieder erholt. Er war überall am Leib von Millionen winziger Glaspartikel bedeckt, genau wie sein Flugrad. Die Schallfalte mußte die Partikel gebremst haben, und dann waren sie auf jede horizontale Oberfläche herabgesunken.
Teela steuerte ihre Maschine bereits in den ballsaal-großen Raum dahinter. Der-zu-den-Tieren-spricht und Louis folgten ihr…
Nach und nach erwachte Louis. Er fühlte sich wundervoll. Er lag auf einer weichen Oberfläche mit dem Arm hinter dem Kopf. Sein Arm war eingeschlafen.
Louis rollte sich herum und schlug die Augen auf.
Er lag in einem Bett. Über ihm eine hohe weiße Decke. Irgend etwas Hartes unter seinen Rippen stellte sich als Teelas Fuß heraus.
Richtig. Sie hatten das Bett letzte Nacht entdeckt. Ein Bett so groß wie eine Minigolfbahn in einem riesigen Schlafzimmer. Das Schlafzimmer hätte sich in einem weniger ungewöhnlichen Schloß im Tiefgeschoß befunden.
Andererseits war das hier nicht das erste Wunder, seit sie auf der Ringwelt waren.
Es war tatsächlich ein Schloß, nicht einfach ein vornehmes Hotel. Eine Banketthalle mit einem fünfzig Fuß hohen Panoramafenster war in der Tat beeindruckend. Die Tische in der Halle standen um ein rundes Podest herum, auf dem seinerseits ein großer ringförmiger Tisch stand. Im Innenraum stand ein konturierter, hochlehniger Sessel von der Größe eines Throns. Teela hatte experimentiert und herausgefunden, wie sie den Thron bis halbwegs zur Decke hochfahren und außerdem ein Mikro aktivieren konnte, das die Stimme des Thronbesetzers zu einem wahren Donnern verstärkte. Der Thron war drehbar, und wenn er sich drehte, folgte die abstrakte Skulptur an der Decke seiner Bewegung.
Sie war aus gezogenem Draht gefertigt und anscheinend sehr leicht. Louis hatte gedacht, es sei ein abstraktes Werk, bis Teela sie in Rotation versetzte. Plötzlich wurde aus der Skulptur… ein Porträt.
Das Porträt eines vollkommen kahlköpfigen Mannes.
War er ein Eingeborener und stammte aus einer Gemeinschaft, deren Angehörige sich die Gesichtshaare entfernten? Oder gehörte er zu einer völlig anderen Rasse aus einer weit entfernten Gegend der Ringwelt? Sie würden es niemals wissen. Das Gesicht war ganz entschieden humanoid: gutaussehend und kantig; das Gesicht eines Mannes, der gewohnt war zu befehlen.
Louis sah zur Decke hinauf und betrachtete das Gesicht. Verantwortung hatte harte Linien hineingegraben, um die Augen und den Mund herum, und der Künstler hatte es irgendwie fertiggebracht, diese Linien in das Drahtgitter einzuarbeiten.
Dieses Schloß war ein Regierungssitz gewesen. Alles hier deutete darauf hin: der Thron, die Banketthalle, die einzigartigen Fenster und das Schloß selbst mit seiner unabhängigen Energieversorgung. Doch für Louis Wu war der entscheidende Hinweis dieses Gesicht.
Später waren sie durch das Schloß gewandert. Überall hatten sie verschwenderisch geschmückte, wunderbar konstruierte Treppenhäuser gefunden. Die Treppen bewegten sich nicht. Es gab keine Rolltreppen, keine Aufzüge, keine Rollsteige, keine Fallschächte. Vielleicht hatten die Treppen sich einst selbst bewegt.
Die kleine Gruppe war immer tiefer gestiegen — es war einfacher, als die Treppen zu erklimmen. Im untersten Geschoß des Schlosses waren sie über das Schlafzimmer gestolpert.
Endlose Tage, an denen sie auf den Flugrädern hatten schlafen müssen und sich nur lieben konnten, wenn die Gruppe einen kurzen Zwischenstop einlegte, hatten das Bett für Teela und Louis zu etwas Unwiderstehlichem gemacht. Sie hatten sich zurückgezogen und Der-zu-den-Tieren-spricht das Schloß alleine weiter erkunden lassen.
Wer weiß, was er in der Zwischenzeit alles entdeckt hatte.
Louis erhob sich und stützte sich auf den Ellbogen. Langsam regte sich wieder Gefühl in der eingeschlafenen Hand. Er bewegte sie vorsichtig, um sich nicht anzustoßen. Mit Schlafplatten passiert so etwas nicht, sinnierte er. Ach, was zum Tanj… Wenigstens ist es ein richtiges Bett…
Eine gläserne Wand des Schlafzimmers öffnete sich zu dem trockenen Pool hin. Eingerahmt von gläsernen Wänden und einem gläsernen Fußboden starrte ihn das Skelett des Bandersnatchers aus leeren Augenhöhlen in einem löffelförmigen Schädel an.
Die gegenüberliegende Wand, ebenfalls transparent, zeigte einen Ausblick auf die tausend Fuß tiefer liegende Stadt.
Louis rollte sich dreimal um die eigene Achse, bevor er den Rand des Bettes erreicht hatte und hinunterfiel. Der Boden war weich und mit einem Fellteppich bedeckt, der in Struktur und Farbe verblüffend an die Bärte der Eingeborenen erinnerte. Louis tappte zum Fenster und warf einen Blick in die Runde.
(Irgend etwas störte seinen Gesichtssinn, wie das leichte Flackern eines 3D-Projektors. Bewußt hatte er es bisher noch nicht wahrgenommen. Trotzdem war es lästig.)
Unter einem eintönig weißen Himmel lag grau in grau die Stadt. Die Gebäude waren zumeist groß, doch einige waren so groß, daß der Rest unbedeutend erschien. Ein paar reichten höher als der Boden des schwebenden Schlosses. Es hatte noch weitere schwebende Bauwerke gegeben. Louis konnte die Ruinen erkennen, breite Lücken in der Stadtlandschaft, wo Tausende von Tonnen Mauerwerk zu Boden gekracht waren.
Doch dieses eine Traumschloß hier besaß seine eigene Energieversorgung. Und ein Schlafzimmer mit einem Bett darin, in dem man eine beliebig große Orgie feiern konnte. Und ein riesiges Panoramafenster, durch das ein Sultan sein Reich betrachten und seine Untertanen als die Ameisen sehen konnte, die sie gewesen sein mußten.
»Dieser Ort hat sicher zur Hybris verleitet«, murmelte Louis Wu vor sich hin.
Irgend etwas fing seinen Blick. Etwas Zappelndes außerhalb des Fensters.
Faden. Ein Stück Faden war an einem Kranzgesims hängengeblieben, und noch immer regnete mehr davon aus dem Himmel. Gewöhnlicher Faden. Louis sah die beiden Enden des Stücks über dem Gesims bis in die Stadt hinunterbaumeln. Der Faden mußte wenigstens schon so lange aus dem Himmel regnen, wie Louis durch das Fenster sah. Und seine Aussicht behindern.
Louis hatte keine Ahnung, woher der Faden stammte. Er nahm ihn einfach als gegeben hin. Als irgend etwas Schönes. Nackt lag er auf dem Rücken auf dem von Wand zu Wand reichenden Fellteppich des Schlafzimmers und sah zu, wie der Faden aus dem Himmel regnete. Er fühlte sich entspannt und ausgeruht und sicher, und das zum ersten Mal, seit die Lying Bastard von einem Röntgenlaser abgeschossen worden war.