Nessus schien nur ganz schwache Tasp-Stöße auszuteilen. Sehr schwache Stöße.
Er sprach erneut, und diesmal antwortete sie. Ihre Stimme klang kühl und musikalisch und in Louis Wus Ohren unnahbar. Er war für diesen Ton bei Frauen ganz besonders empfänglich.
Die Stimme des Puppenspielers nahm exakt den gleichen Tonfall an wie die der Frau.
Was sich anschließend entwickelte, war eine Lehrstunde im Lernen von Fremdsprachen.
Für Louis, der unbequem über einem tödlichen Abgrund balancierte, war es nichts als langweilig. Er schnappte hier und da ein paar Worte auf. Irgendwann warf sie Nessus eine der faustgroßen orangefarbenen Früchte zu, und sie nannte dabei das Wort Thrumb. Nessus fing die Frucht auf.
Unvermittelt brach sie die Unterhaltung ab und ging.
»Und?« erkundigte sich Louis.
»Ihr scheint langweilig geworden zu sein«, sagte der Puppenspieler. »Sie hat mit keinem Wort gesagt, daß sie gehen wollte.«
»Ich sterbe fast vor Durst. Könnte ich diese Thrumb haben?«
»Thrumb ist die Farbe der Schale, Louis.« Er steuerte sein Flugrad neben das von Louis und reichte ihm die Frucht.
Louis war verzweifelt genug, um mit einer Hand loszulassen und die Frucht entgegenzunehmen. Es bedeutete aber auch, daß er mit den Zähnen in die dicke Schale beißen und sie abreißen mußte. Irgendwann erreichte er das Fruchtfleisch und biß hinein. Es war mit Abstand das Allerköstlichste, was Louis in seinen zweihundert Lebensjahren gegessen hatte.
Als er fertig war, fragte er: »Kommt sie zurück?«
»Wollen wir es hoffen. Ich habe den Tasp mit ganz schwacher Energie eingesetzt, um ihr Unterbewußtsein zu beeinflussen. Sie wird ihn vermissen. Die Verlockung wird immer größer werden, je häufiger sie herkommt. Louis, sollen wir nicht dafür sorgen, daß sie sich in Sie verliebt?«
»Vergessen Sie’s. Sie denkt, ich sei ein Eingeborener, ein Wilder. Was mich zu der Frage bringt: Was ist sie?«
»Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Sie hat nicht versucht, es zu verbergen, aber sie hat auch nicht damit geprahlt. Ich kenne die Sprache nicht gut genug, Louis. Noch nicht.«
KAPITEL ZWANZIG
FLEISCH
Nessus war gelandet, um das Halbdunkel tief unten zu erkunden. Abgeschnitten vom Interkom versuchte Louis zu beobachten, was der Puppenspieler trieb. Schließlich gab er auf.
Eine ganze Weile später vernahm er Schritte. Diesmal ohne Glöckchen.
Er formte mit den Händen einen Trichter und rief nach unten: »Nessus!«
Der Ruf echote die Wände hinab und fokussierte in der Mitte des umgekehrten Konus’. Der Puppenspieler sprang erschrocken auf, huschte zu seinem Flugrad und startete. Oder schaltete wahrscheinlich einfach die Maschinen aus. Zweifellos hatte er den Motor laufen lassen, um das Feld zu überwinden, das Louis und den Kzin hier oben festhielt.
Er war zurück zwischen den schwebenden Wracks, bevor die Schritte irgendwo über ihnen Halt machten.
»Was zum tanj treibt sie nur?« flüsterte Louis.
»Geduld. Sie dürfen nicht erwarten, daß sie von einer einzigen Anwendung des Tasp bereits konditioniert ist, noch dazu mit schwacher Energie.«
»Versuchen Sie, das in Ihre beiden dicken, hirnlosen Schädel zu kriegen, Nessus: Ich kann mein Gleichgewicht nicht ewig halten!«
»Sie müssen. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Wasser«, ächzte Louis mit einer Zunge wie zwei Meter aufgerollter Flannell.
»Sind Sie durstig? Wie kann ich Ihnen Wasser geben? Sobald Sie den Kopf drehen, verlieren Sie möglicherweise Ihr Gleichgewicht.«
»Ich weiß. Vergessen Sie’s.« Louis erschauerte. Merkwürdig, daß Louis Wu, der Raumfahrer, eine derartige Höhenangst entwickelte. »Wie geht es unserem Sprecher-zu-den-Tieren?«
»Ich mache mir seinetwegen Sorgen. Er ist schon zu lange bewußtlos.«
»Tanj, tanj…!«
Schritte.
Das ständige Wechseln der Kleider scheint eine Manie von ihr zu sein, dachte Louis. Diesmal trug sie etwas, das nur aus überlappenden Falten in Orange und Grün bestand. Wie sämtliche vorherigen Aufzüge verriet auch dieser nichts von ihrer Figur.
Sie kniete am Rand der Beobachtungsplattform nieder und musterte Louis kühl. Louis klammerte sich an sein metallenes Floß und wartete die weitere Entwicklung ab.
Er sah, wie ihre Gesichtszüge weicher wurden. Ihre Augen sahen mit einem Mal verträumt aus, und die Winkel ihres kleinen Mundes bogen sich nach oben.
Nessus sagte etwas.
Sie dachte darüber nach. Schließlich sagte sie etwas, das durchaus eine Antwort sein konnte.
Dann ging sie wieder.
»Und?«
»Wir werden sehen.«
»Ich werde noch ganz krank vom Warten.«
Unvermittelt schwebte das Flugrad des Puppenspielers höher. Höher und zum Rand des Trichters hin. Es stieß an die Kante der Beobachtungsplattform wie ein Ruderboot, das am Steg anlegte.
Anmutig stieg Nessus aus.
Die Frau kam, um ihn zu begrüßen. In ihrer Linken hielt sie etwas, das eine Waffe sein mußte. Mit der anderen Hand berührte sie den einen Kopf des Puppenspielers, zögerte, und fuhr mit den Fingernägeln an seinem Hals entlang.
Nessus gab ein Geräusch des Wohlbefindens von sich.
Sie drehte sich um und stieg die Treppen hinauf, ohne einen einzigen Blick nach hinten zu werfen. Sie schien anzunehmen, daß Nessus ihr folgen würde wie ein Hund. Der Puppenspieler enttäuschte sie nicht.
Gut, dachte Louis. Sei unterwürfig. Gewinne ihr Vertrauen.
Nachdem der eigenartige Rhythmus ihrer Schritte verklungen war, wurde der Zellenblock zu einer gigantischen Friedhofshalle.
Der-zu-den-Tieren-spricht schwebte dreißig Fuß von Louis entfernt in einem Sargassosee aus Metall. Vier fleischige schwarze Finger und ein Streifen orangefarbenes Gesicht lugten zwischen den grünen Ballons hervor. Louis hatte keine Möglichkeit, näher heranzugehen. Der Kzin war vielleicht längst tot.
Zwischen den weißen Knochen tief unten lagen zumindest ein Dutzend Schädel. Knochen und Alter und verrostetes Metall und… Stille. Louis Wu klammerte sich an sein Flugrad und wartete, daß ihn die Kräfte verließen.
Nicht viel später döste er vor sich hin, als irgend etwas geschah. Sein Gleichgewicht geriet ins Wanken…
Louis’ Leben hing von seiner Balance ab. Die momentane Desorientierung ließ ihn in starre Panik ausbrechen. Er blickte sich hektisch um, ohne den Kopf zu bewegen.
Die Metallwracks ringsum hingen reglos in der Luft. Aber irgend etwas bewegte sich!
Irgendwo stieß ein Fahrzeug an. Kreischen von Metall auf Metall, und dann stieg es hoch.
Was?
Nein. Es stieg nicht hoch. Es war auf dem oberen Zellenring gelandet. Die gesamte Sargassosee sank gleichförmig dem Boden entgegen.
Eines nach dem anderen landeten die Fahrzeuge und Jetpacks geräuschvoll auf Simsen und Vorsprüngen und blieben zurück.
Louis’ Flugrad krachte heftig gegen Beton, drehte sich im Strudel elektromagnetischer Felder halb zur Seite und kippte um. Louis löste sich und rollte zur Seite.
Augenblicklich versuchte er, auf die Beine zu kommen. Sein Gleichgewichtssinn spielte nicht mit; er konnte sich nicht aufrecht halten. Seine Hände waren zu Klauen gekrümmt, schmerzhaft verkrampft, nutzlos. Er lag schwer atmend auf der Seite, und sein einziger Gedanke lautete, daß es zu spät war. Das Flugrad des Kzin mußte auf Der-zu-den-Tieren-spricht gelandet sein.