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Annabeth schaute in die Höhle, dann seufzte sie und schloss den Vorhang. »Im Moment gar nichts. Hier wohnt eine Freundin. Ich erwarte sie schon seit einigen Tagen, aber bisher – nichts.«

»Deine Freundin wohnt in einer Höhle?«

Annabeth brachte fast ein Lächeln zu Stande. »In Wirklichkeit hat ihre Familie eine Luxuswohnung in Queens und sie besucht in Connecticut eine Schule für höhere Töchter. Aber wenn sie hier im Lager ist, ja, dann lebt sie in der Höhle. Sie ist unser Orakel, sie sagt die Zukunft voraus. Ich hatte gehofft, sie könnte mir helfen …«

»… Percy zu finden«, vermutete Piper.

Alle Energie schien aus Annabeth hinauszuströmen, als ob sie sich, so lange sie nur konnte, zusammengerissen hätte. Sie setzte sich auf einen Felsen und ihr Gesicht war so voller Kummer, dass Piper sich richtig aufdringlich vorkam. Sie zwang sich, wegzuschauen. Ihre Augen wanderten zum Hügelkamm, wo eine einzige Fichte den Horizont dominierte. Etwas funkelte am untersten Ast wie eine zottige goldene Badematte.

Nein … keine Badematte. Es war ein Schaffell.

Na gut, dachte Piper. Griechisches Lager. Klar haben sie eine Nachbildung des Goldenen Vlieses.

Dann sah sie zum Fuß des Baumes. Zuerst glaubte sie, der Baum sei in eine Menge von riesigen lila Kabeln eingewickelt. Aber die Kabel hatten Reptilienschuppen, Krallen und einen schlangenhaften Kopf mit gelben Augen und dampfenden Nüstern.

»Das ist … ein Drache«, stammelte sie. »Ist das das echte Goldene Vlies?«

Annabeth nickte, aber es war klar, dass sie nicht richtig zugehört hatte. Ihre Schultern hingen herab. Sie rieb sich das Gesicht und holte zitternd Atem. »Tut mir leid. Bin ein bisschen müde.«

»Du siehst aus, als wenn du gleich umkippst«, sagte Piper. »Wie lange suchst du deinen Freund denn schon?«

»Drei Tage, sechs Stunden und ungefähr zwölf Minuten.«

»Und du hast keine Vorstellung, was ihm passiert sein kann?«

Annabeth schüttelte verzweifelt den Kopf. »Wir waren so glücklich, weil wir beide so früh Winterferien bekommen hatten. Wir haben uns am Dienstag im Camp getroffen und dachten, wir würden drei Wochen zusammen haben. Dann, nach dem Lagerfeuer – da gab er mir einen Gute-Nacht-Kuss, ging in seine Hütte, und am Morgen war er verschwunden. Wir haben das ganze Camp abgesucht. Wir haben seine Mom gefragt. Wir haben auf jede erdenkliche Weise versucht, ihn zu erreichen. Nichts. Er blieb einfach verschwunden.«

Piper dachte: Vor drei Tagen. In der Nacht, in der sie ihren Traum gehabt hatte. »Wie lange seid ihr schon zusammen?«

»Seit August«, sagte Annabeth. »Seit dem 18. August.«

»Fast genau dem Tag, an dem ich Jason kennengelernt habe«, sagte Piper. »Aber wir sind erst ein paar Wochen zusammen.«

Annabeth schaute unbehaglich drein. »Piper … was das betrifft … Vielleicht setzt du dich besser.«

Piper wusste, was jetzt kommen würde. Panik stieg in ihr auf, so, als ob ihre Lunge sich mit Wasser füllte. »Hör mal, ich weiß, dass Jason denkt – er denkt, er wäre heute einfach so in unserer Schule aufgetaucht. Aber das stimmt nicht. Ich kenne ihn seit Monaten.«

»Piper«, sagte Annabeth traurig. »Das ist der Nebel.«

»Was für ein Nebel?«

»Das ist eine Art Schleier, der die Welt der Sterblichen von der magischen Welt trennt. Sterbliche Gemüter können seltsame Dinge wie Gottheiten und Monster nicht verarbeiten, deshalb verändert der Nebel die Wirklichkeit. Er sorgt dafür, dass Sterbliche die Dinge auf eine Art wahrnehmen, die sie verstehen können – so dass ihre Augen zum Beispiel dieses Tal einfach übersehen, oder sie schauen auf den Drachen und sehen einen Haufen Kabel.«

Piper schluckte. »Nein. Du hast doch selbst gesagt, dass ich keine gewöhnliche Sterbliche bin. Ich bin eine Halbgöttin.«

»Auch die können betroffen sein. Ich habe das schon oft erlebt. Monster schleichen sich zum Beispiel in eine Schule ein, spielen einen Menschen, und alle glauben, sich an diesen Menschen erinnern zu können. Sie glauben, dass er schon immer da war. Der Nebel kann Erinnerungen verändern, kann sogar Erinnerungen an Dinge auslösen, die niemals passiert sind …«

»Aber Jason ist kein Monster!«, protestierte Piper. »Er ist ein Mensch oder Halbgott oder wie auch immer du ihn nennen willst. Meine Erinnerungen sind nicht falsch. Sie sind ungeheuer lebendig. Wie damals, als wir Trainer Hedges Hose angezündet haben. Oder als Jason und ich auf dem Dach des Wohnheims einen Meteorschauer gesehen haben und ich den Dussel endlich dazu bringen konnte, mich zu küssen …«

Sie merkte, dass sie wild drauflosredete, dass sie Annabeth ihr ganzes Halbjahr in der Wüstenschule schilderte. Sie hatte Jason seit der ersten Woche gemocht. Er war so nett zu ihr und so geduldig, er fand sich sogar mit dem hyperaktiven Leo und dessen blöden Witzen ab. Er akzeptierte sie als die, die sie war, und verurteilte sie nicht wegen der Dummheiten, die sie begangen hatte. Sie hatten stundenlang geredet, die Sterne angesehen und schließlich – endlich – Händchen gehalten. Das konnte doch nicht alles gefälscht sein.

Annabeth spitzte die Lippen. »Piper, deine Erinnerungen sind viel schärfer als die der meisten anderen Menschen, das muss ich dir lassen, und ich weiß nicht, woran das liegt. Aber wenn du ihn so gut kennst …«

»Das tue ich!«

»Dann – woher kommt er?«

Piper hatte das Gefühl, einen Schlag zwischen die Augen bekommen zu haben. »Das muss er mir gesagt haben, aber …«

»Hast du vor dem heutigen Tag schon einmal sein Tattoo gesehen? Hat er dir jemals etwas über seine Eltern, seine Freunde oder seine letzte Schule erzählt?«

»Ich – ich weiß nicht, aber …«

»Piper, wie heißt er mit Nachnamen?«

Ihre Gedanken waren einfach leer. Sie wusste Jasons Nachnamen nicht. Wie war das möglich?

Sie fing an zu weinen. Sie kam sich vor wie eine Vollidiotin, aber trotzdem setzte sie sich neben Annabeth auf den Felsen und brach einfach zusammen. Das war zu viel. Musste ihr denn alles weggenommen werden, was in ihrem blöden elenden Leben gut gewesen war?

Ja, hatte die Stimme im Traum ihr gesagt. Ja, es sei denn, du tust genau, was wir dir sagen.

»He«, sagte Annabeth. »Wir kriegen das schon raus. Jason ist ja jetzt hier. Wer weiß? Vielleicht klappt es ja wirklich mit euch.«

Wohl kaum, dachte Piper. Nicht, wenn der Traum ihr die Wahrheit gesagt hatte. Aber das konnte sie nicht verraten.

Sie wischte sich eine Träne von der Wange. »Du bist mit mir hergekommen, damit niemand mich beim Flennen sieht, was?«

Annabeth zuckte mit den Schultern. »Ich konnte mir vorstellen, dass es hart für dich sein würde. Ich weiß, wie es ist, wenn man seinen Freund verliert.«

»Aber ich kann noch immer nicht glauben … ich weiß, dass da etwas war. Und jetzt ist es einfach weg, er scheint mich ja nicht mal wiederzuerkennen. Wenn er also erst heute aufgetaucht ist, warum? Wie ist er hergekommen? Warum kann er sich an nichts erinnern?«

»Gute Fragen«, sagte Annabeth. »Hoffentlich kann Chiron sie beantworten. Aber erst mal müssen wir uns um dich kümmern. Kannst du jetzt wieder runtergehen?«

Piper starrte die bunt gewürfelten Hütten im Tal an, ihr neues Zuhause, eine Familie, die sie hoffentlich verstehen würde – aber bald würden sie einfach noch mehr Leute sein, die sie enttäuscht hatte, noch ein Ort, von dem sie verstoßen worden war. Du wirst sie verraten, weil wir es dir sagen, hatte die Stimme gedroht. Oder du wirst alles verlieren.

Sie hatte keine Wahl.

»Ja«, log sie. »Ich bin so weit.«

Auf der Wiese zwischen den Hütten spielten einige Campinsassen Basketball. Sie trafen unglaublich gut. Kein Ball prallte vom Rand ab, noch der mieseste Wurf ging automatisch in den Korb.