Jason stürzte sich auf den Riesen, entschlossen, ihn in Stücke zu reißen.
Mit bloßen Händen einen zwölf Meter großen Unsterblichen anzugreifen war so idiotisch, dass sogar der Riese überrascht wirkte. Halb fliegend, halb springend landete Jason auf dem schuppigen Reptilienknie des Riesen und kletterte auf seinen Arm, ehe Porphyrion überhaupt begriff, wie ihm geschah.
»Was erlaubst du dir?«, brüllte er.
Jason war auf seinen Schultern angekommen und riss ein Schwert aus den prall gefüllten Zöpfen des Riesen. Er schrie »Für Rom« und bohrte das Schwert in das nächstbeste Ziel – das riesige Ohr des Porphyrion.
Blitze schossen vom Himmel herab und trafen das Schwert und Jason wurde zurückgeschleudert. Er rollte sich ab, als er auf dem Boden aufprallte. Als er aufschaute, taumelte der Riese. Seine Haare brannten, die eine Seite seines Gesichts war vom Blitz rußgeschwärzt. Das Schwert hatte sein Ohr zerfetzt. Goldenes Ichor lief über seine Wange. Die anderen Waffen in seinen Zöpfen warfen Funken und schwelten.
Porphyrion stürzte fast. Der Kreis aus Monstern begann kollektiv zu knurren und rückte vor – Wölfe und Ungeheuer starrten Jason an.
»Nein!«, schrie Porphyrion. Er fand das Gleichgewicht wieder und starrte den Halbgott wütend an. »Ich will ihn selbst umbringen.«
Der Riese hob den Speer und der fing an zu glühen. »Du willst mit Blitzen spielen, Knabe? Vergiss nicht, ich bin der Untergang des Zeus. Ich wurde erschaffen, um deinen Vater zu vernichten, und das bedeutet, dass ich genau weiß, was dich tötet!«
Etwas in Porphyrions Stimme sagte Jason, dass der Riese nicht bluffte.
Jason und seine Freunde hatten gute Arbeit geleistet. Die drei hatten Beeindruckendes vollbracht. Ja, sogar heroische Taten waren ihnen gelungen. Aber als der Riese den Speer hob, wusste Jason, dass er diesen Hieb nie im Leben würde abwehren können.
Das war das Ende.
»Geschafft!«, schrie Leo.
»Schlaf!«, sagte Piper so überzeugend, dass die Wölfe in der nächsten Nähe zu Boden fielen und anfingen zu schnarchen.
Der Käfig aus Stein und Holz zerfiel. Leo hatte die dicksten Ranken durchsägt und offenbar die Verbindung des Käfigs zu Gaia gekappt. Die Ranken zerfielen zu Staub und der Schlamm um Hera löste sich auf. Die Göttin wuchs und leuchtete vor Kraft.
»Ja!«, sagte die Göttin. Sie warf ihre schwarzen Gewänder ab und stand da in einem weißen Kleid, ihre Arme mit goldenem Schmuck bedeckt. Ihr Gesicht war entsetzlich und schön zugleich und eine goldene Krone leuchtete auf ihren langen schwarzen Haaren. »Und jetzt will ich Rache!«
Der Riese Porphyrion wich zurück. Er sagte nichts, warf aber Jason einen letzten hasserfüllten Blick zu. Die Botschaft war deutlich: Wir sprechen uns noch! Dann stieß er den Speer auf den Boden und verschwand in der Erde, als wäre er in einen Schacht gefallen.
Überall auf dem Hof gerieten die Monster in Panik und wollten fliehen, aber für sie gab es kein Entkommen.
Heras Leuchten wurde stärker. »Bedeckt eure Augen, meine Helden!«, rief sie.
Aber Jason war zu geschockt. Er begriff zu spät.
Er sah zu, wie Hera sich in eine Supernova verwandelte und zu einem Ring aus Kraft zerbarst, der jedes Monster sofort zu Staub zerfallen ließ. Jason stürzte zu Boden, das Licht schnitt in sein Gehirn und sein letzter Gedanke war, dass sein Körper brannte.
LI
Piper
»Jason!«
Piper rief immer wieder seinen Namen, als sie ihn in den Armen hielt, obwohl sie fast die Hoffnung verloren hatte. Er war jetzt seit zwei Minuten bewusstlos. Sein Körper dampfte, und sie sah nur das Weiße seiner Augen. Sie konnte nicht einmal erkennen, ob er noch atmete.
»Das hat keinen Zweck, Kind.« Hera stand in ihren schlichten schwarzen Gewändern und mit Kopftuch über ihnen. Piper hatte den atomaren Ausbruch der Göttin nicht gesehen, zum Glück hatte sie dabei die Augen geschlossen. Aber die Folgen sah sie durchaus. Jede Spur von Winter war aus dem Tal verschwunden. Es gab keine Anzeichen der Schlacht mehr. Die Monster waren zu Staub zerfallen. Die Ruinen sahen so aus wie vorher – noch immer Ruinen, aber ohne Hinweis darauf, dass sie von einer Meute aus Wölfen, Sturmgeistern und sechsarmigen Ungeheuern überrannt worden waren.
Sogar die Jägerinnen waren wieder lebendig. Die meisten warteten in respektvoller Entfernung auf der Wiese, aber Thalia kniete neben Piper und hatte die Hand auf Jasons Stirn gelegt.
Thalia schaute wütend zu der Göttin hoch. »Das ist deine Schuld! Mach was!«
»Red nicht so mit mir, Mädchen. Ich bin die Königin …«
»Hilf ihm!«
Heras Augen flackerten vor Kraft. »Ich habe ihn gewarnt. Ich hätte den Jungen niemals absichtlich verletzt. Er sollte mein Ritter sein. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen die Augen schließen, ehe ich meine wahre Gestalt gezeigt habe.«
»Äh«, Leo runzelte die Stirn. »Wahre Gestalt ist also nicht gut? Warum habt Ihr das dann getan?«
»Ich habe meine Macht entfesselt, um euch zu helfen, du Tropf!«, schrie Hera. »Ich bin zu reiner Energie geworden, um die Monster zerfallen zu lassen, um diesen Ort wiederherzustellen, ja sogar, um diese elenden Jägerinnen aus dem Eis zu retten.«
»Aber Sterbliche dürfen dich in dieser Gestalt nicht sehen!«, schrie Thalia zurück. »Du hast ihn umgebracht!«
Leo schüttelte verzweifelt den Kopf. »Das hat die Weissagung also gemeint. Damit, dass durch Heras Zorn der Tod befreit wird. Also los, gute Frau. Ihr seid eine Göttin. Macht hier mal irgendeinen Voodoo-Trick. Holt ihn zurück!«
Piper hatte mit halbem Ohr zugehört, dabei aber die ganze Zeit Jasons Gesicht beobachtet. »Er atmet«, sagte sie jetzt.
»Unmöglich«, sagte Hera. »Ich wünschte, es stimmte, Kind, aber kein Sterblicher hat jemals …«
»Jason«, rief Piper und legte ihre ganze Willenskraft in diesen Namen. Sie durfte ihn einfach nicht verlieren. »Hör mir zu. Du schaffst es. Komm zurück. Alles wird gut.«
Nichts passierte. Hatte sie sich sein Atmen nur eingebildet?
»Die Heilkraft gehört nicht zu den Gaben der Aphrodite«, sagte Hera bedauernd. »Nicht einmal ich kann hier helfen, Mädchen. Sein sterblicher Geist …«
»Jason«, sagte Piper noch einmal, und sie stellte sich vor, dass ihre Stimme auf der ganzen Erde widerhallte, bis hinab in die Unterwelt. »Wach auf.«
Er keuchte und seine Augen öffneten sich. Für einen Moment waren sie voller Licht – reines, leuchtendes Gold. Dann verschwand das Licht und seine Augen waren wieder normal. »Was – was ist passiert?«
»Unmöglich«, sagte Hera.
Piper drückte ihn an sich, bis er stöhnte. »Du erdrückst mich noch.«
»Tut mir leid«, sagte sie, so erleichtert, dass sie lachte, während sie sich eine Träne aus dem Auge wischte.
Thalia nahm die Hand ihres Bruders. »Wie fühlst du dich?«
»Heiß«, murmelte er. »Mund ist trocken. Und ich habe etwas gesehen … etwas Entsetzliches.«
»Das war Hera«, knurrte Thalia. »Ihre Majestät, die ungesicherte Kanone.«
»Das reicht, Thalia Grace«, sagte die Göttin. »Ich werde dich in eine Beutelratte verwandeln, so wahr mir …«
»Aufhören, alle beide«, sagte Piper. Erstaunlicherweise hielten beide den Mund.
Piper half Jason auf die Füße und gab ihm den letzten Nektar aus ihren Vorräten.
»Und jetzt …« Piper sah Thalia und Hera an. »Hera – Eure Majestät –, wir hätten Euch ohne die Jägerinnen nicht retten können. Und Thalia, du hättest Jason niemals wiedergesehen – und ich hätte ihn niemals kennengelernt –, wenn Hera nicht gewesen wäre. Also vertragt euch jetzt, wir haben wirklich größere Probleme.«
Beide starrten sie wütend an, und für drei lange Sekunden war Piper nicht sicher, welche von beiden sie zuerst umbringen würde.
Endlich grunzte Thalia: »Du hast echt Mumm, Piper.« Sie zog eine Silberkarte aus ihrem Parka und steckte sie in die Tasche von Pipers Snowboardingjacke. »Wenn du je Lust hast, Jägerin zu werden, dann sag mir Bescheid. Wir könnten dich brauchen.«