Hera verschränkte die Arme. »Zum Glück für diese Jägerin hier hast du nicht Unrecht, Tochter der Aphrodite.« Sie musterte Piper, als sähe sie sie zum ersten Mal. »Du hast dich gefragt, Piper, warum ich dich für diesen Einsatz ausgesucht habe und warum ich nicht sofort dein Geheimnis verraten habe, obwohl ich wusste, dass Enceladus dich ausnutzte. Ich muss zugeben, bisher war ich nicht sicher. Irgendetwas sagte mir, dass du für diesen Einsatz entscheidend sein würdest. Jetzt sehe ich, dass ich Recht hatte. Du bist stärker, als mir klar war. Und was die kommenden Gefahren angeht, liegst du richtig. Wir müssen zusammenarbeiten.«
Pipers Gesicht war heiß. Sie wusste nicht so recht, wie sie auf Heras Kompliment reagieren sollte, aber nun schaltete sich Leo ein.
»Genau«, sagte er. »Ich nehme an, dieser Porphyrion ist nicht einfach geschmolzen und gestorben, oder?«
»Nein«, gab Hera zu. »Indem ihr mich und diesen Ort gerettet habt, habt ihr verhindert, dass Gaia erwacht ist. Ihr habt uns Zeit erkauft. Aber Porphyrion hat sich erhoben. Er war einfach nur zu klug, um hierzubleiben, zumal er seine volle Kraft noch nicht erlangt hat. Riesen können nur getötet werden, wenn Götter und Halbgötter zusammenarbeiten. Sowie ihr mich befreit hattet …«
»Ist er weggelaufen«, sagte Jason. »Aber wohin?«
Hera gab keine Antwort, während Piper von Entsetzen überwältigt wurde. Sie dachte daran, was Porphyrion gesagt hatte: dass er die Götter mit der Wurzel ausrotten wollte. Griechenland. Sie sah Thalias düstere Miene und nahm an, dass die Jägerin zu demselben Schluss gekommen war.
»Ich muss Annabeth suchen«, sagte Thalia. »Sie muss wissen, was hier passiert ist.«
»Thalia.« Jason fasste ihre Hand. »Wir hatten keine Zeit, über diesen Ort hier zu sprechen oder …«
»Ich weiß.« Ihre Miene wurde weicher. »Ich habe dich schon einmal hier verloren. Aber wir sehen uns bald wieder. Wir treffen uns im Camp Half-Blood.« Sie blickte zu Hera hinüber. »Ihr bringt sie doch sicher hin? Das ist das Mindeste, was Ihr tun könnt.«
»Es steht dir nicht zu, mir zu sagen …«
»Königin Hera«, warf Piper dazwischen.
Die Göttin seufzte. »Schön. Ja. Und jetzt los mit dir, Jägerin!«
Thalia umarmte Jason und nahm von allen Abschied. Als die Jägerinnen aufgebrochen waren, wirkte der Hof seltsam ruhig. Das ausgetrocknete Wasserbecken zeigte keine Spuren der irdenen Ranken, die den Riesenkönig zurückgebracht und Hera gefangen gehalten hatten. Der Nachthimmel war klar und voller Sterne und der Wind ließ die Mammutbäume rascheln. Piper dachte an die Nacht in Oklahoma, als sie und ihr Dad vor Opa Toms Hütte geschlafen hatten. Sie dachte an die Nacht auf dem Dach der Wüstenschule, als Jason sie geküsst hatte – jedenfalls in ihren vom Nebel manipulierten Erinnerungen.
»Jason, was ist hier mit dir passiert?«, fragte sie. »Ich meine – ich weiß, dass deine Mom dich hier ausgesetzt hat. Aber du hast gesagt, das hier sei für Halbgötter eine geweihte Stätte. Warum? Was ist passiert, nachdem du hier alleingelassen worden warst?«
Jason schüttelte besorgt den Kopf. »Die Erinnerung ist noch immer undeutlich. Die Wölfe …«
»Dir wurde eine Bestimmung zugewiesen«, sagte Hera. »Du wurdest in meinen Dienst gegeben.«
Jason runzelte die Stirn. »Weil Ihr meine Mom dazu gezwungen habt. Ihr konntet das Wissen nicht ertragen, dass Zeus mit meiner Mom zwei Kinder bekommen hatte. Das Wissen, dass er sich zweimal in sie verliebt hatte. Ich war der Preis, den Ihr dafür gefordert habt, dass Ihr den Rest meiner Familie in Ruhe ließt.«
»Es war auch für dich die richtige Wahl«, beharrte Hera. »Als deine Mutter Zeus zum zweiten Mal eingewickelt hat, lag das daran, dass sie ihn in einer anderen Daseinsform sah – der Daseinsform des Jupiter. Das war noch nie passiert – zwei Kinder, griechisch und römisch, in dieselbe Familie geboren. Du musstest von Thalia getrennt werden. Und das hier ist der Ort, wo alle Halbgötter deiner Art ihre Reise antreten.«
»Seiner Art?«, fragte Piper.
»Sie meint römisch«, sagte Jason. »Die Halbgötter werden hier ausgesetzt. Wir treffen hier die Wolfsgöttin Lupa, die unsterbliche Wölfin, die Romulus und Remus aufgezogen hat.«
Hera nickte. »Und wenn ihr stark genug seid, dann überlebt ihr.«
»Aber …« Leo sah verwirrt aus. »Was ist danach passiert? Ich meine, Jason ist doch nie im Camp angekommen.«
»Im Camp Half-Blood nicht«, sagte Hera zustimmend.
Piper hatte das Gefühl, dass der Himmel über ihr sich drehte und ihr wurde schwindlig. »Du bist an einen anderen Ort gegangen. Da warst du in all diesen Jahren. An einen anderen Ort für Halbgötter – aber wo?«
Jason wandte sich an die Göttin. »Die Erinnerungen kehren zurück, aber nicht, wo dieser Ort liegt. Ihr werdet es mir nicht verraten, oder?«
»Nein«, sagte Hera. »Das ist ein Teil deiner Bestimmung, Jason. Du musst deinen eigenen Weg zurück finden. Aber wenn es so weit ist … dann wirst du zwei gewaltige Mächte vereinen. Du wirst uns Hoffnung schenken, was die Riesen angeht und – wichtiger noch – was Gaia selbst betrifft.«
»Wir sollen Euch helfen«, sagte Jason, »aber Ihr haltet Informationen zurück.«
»Dir Antworten zu geben würde diese Antworten ungültig machen«, sagte Hera. »Das ist die Art der Moiren. Du musst deinen eigenen Weg finden, wenn er eine Bedeutung haben soll. Ihr drei habt mich wirklich überrascht. Ich hätte es nicht für möglich gehalten …«
Die Göttin schüttelte den Kopf. »Sagen wir einfach, ihr habt eure Sache sehr gut gemacht, Halbgötter. Aber das hier ist erst der Anfang. Jetzt müsst ihr ins Camp Half-Blood zurückkehren, um euch dort auf die nächste Phase vorzubereiten.«
»Über die Ihr uns nichts sagen wollt«, sagte Jason verärgert. »Und ich vermute, Ihr habt mein nettes Sturmpferd zerstört, und deshalb müssen wir zu Fuß nach Hause gehen?«
Hera tat die Frage als unwichtig ab. »Sturmgeister sind Wesen des Chaos. Dieses eine habe ich nicht vernichtet, aber ich weiß nicht, wo es hingelaufen ist oder ob du es jemals wiedersehen wirst. Aber es gibt eine leichtere Möglichkeit für euch, nach Hause zu kommen. Da ihr mir einen großen Dienst erwiesen habt, kann ich euch helfen – wenigstens dieses eine Mal. Lebt wohl, Halbgötter, zumindest für den Moment.«
Die Welt drehte sich auf den Kopf und Piper wäre fast ohnmächtig geworden.
Als sie wieder klar sehen konnte, waren sie im Camp, im Speisepavillon, mitten beim Abendessen. Sie standen auf dem Tisch der Aphrodite-Hütte und Pipers einer Fuß war in Drews Pizza gelandet. Sechzig Campinsasssen sprangen auf und glotzten sie überrascht an.
Wie auch immer Hera es geschafft hatte, sie quer durch das Land zu schießen, für Pipers Magen war das gar nicht gut gewesen. Sie konnte ihre Übelkeit kaum unter Kontrolle halten. Leo hatte noch weniger Glück. Er sprang vom Tisch, rannte zur nächsten bronzenen Kohlepfanne und erbrach sich hinein – was für die Götter wohl kein besonders tolles Brandopfer war.
»Jason?« Chiron kam angetrabt. Der alte Zentaur hatte schon Jahrtausende voller Seltsamkeiten erlebt, aber sogar er wirkte total überrumpelt. »Was … wie …?«
Die Leute aus der Aphrodite-Hütte starrten Piper mit offenem Mund an. Piper vermutete, dass sie grauenhaft aussah.
»Hallo«, sagte sie, so lässig sie nur konnte. »Da wären wir wieder.«
LII
Piper
Piper hatte später kaum Erinnerungen an diesen Abend. Sie erzählten ihre Geschichte und beantworteten eine Million Fragen der Campbewohner, aber endlich sah Chiron, wie erschöpft sie waren, und schickte sie ins Bett.
Es war so gut, auf einer echten Matratze zu liegen, und Piper war so müde, dass sie sofort eingeschlafen war. Das ersparte ihr alle Sorgen darüber, wie es wohl sein würde, in die Aphrodite-Hütte zurückzukehren.
Am nächsten Morgen erwachte sie in ihrem Bett und fühlte sich wie neugeboren. Die Sonne schien durch die Fenster und eine sanfte Brise wehte. Es hätte Frühling sein können und nicht Winter. Vögel sangen. Monster heulten im Wald. Vom Speisepavillon wehten Frühstücksgerüche herüber – Speck, Pfannkuchen und alle möglichen anderen Köstlichkeiten.