Ansonsten war die Hütte leer – es gab keine Betten, keine Möbel, kein Badezimmer, keine Fenster, nichts, das irgendwer zum Wohnen benutzen könnte. Piper fand, es sah eher aus wie in einem Grab, nicht wie in der Hütte einer Göttin des Heims und der Ehe.
Nein, das hier war nicht ihre Mutter. Wenigstens in dem Punkt war Piper sich sicher. Sie war nicht hereingekommen, weil sie eine positive Verbindung gespürt hatte, sondern weil sie sich hier noch mehr fürchtete. Ihr Traum – dieses entsetzliche Ultimatum, das ihr gestellt worden war – hatte etwas mit dieser Hütte zu tun.
Sie erstarrte. Sie waren nicht allein. Hinter der Statue, vor einem kleinen Altar hinten in der Hütte, stand eine in einen schwarzen Umhang gehüllte Gestalt. Nur ihre Hände mit den nach oben gekehrten Handflächen waren zu sehen. Sie schien so etwas wie einen Zauberspruch oder ein Gebet aufzusagen.
Annabeth schnappte nach Luft. »Rachel?«
Die Gestalt drehte sich zu ihnen um. Sie ließ ihre Kapuze fallen und enthüllte eine rote Lockenmähne und ein sommersprossiges Gesicht, das überhaupt nicht zu dieser kargen Hütte oder dem schwarzen Umhang passte. Sie sah aus wie siebzehn, ein ganz normaler Teenager in einer grünen Bluse und zerlumpten Jeans, die mit Filzstiftzeichnungen übersät waren. Trotz des kalten Bodens war sie barfuß.
»Hey!« Sie stürzte auf Annabeth zu und umarmte sie. »Tut mir leid. Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.«
Sie redeten einige Minuten über Annabeths Freund und dass es nichts Neues gab und so weiter, bis sich Annabeth dann endlich an Piper erinnerte, die danebenstand und sich überflüssig vorkam.
»Ich bin unhöflich«, sagte Annabeth bedauernd. »Rachel, das ist Piper, eins von den Halbbluten, die wir heute gerettet haben. Piper, das ist Rachel Elizabeth Dare, unser Orakel.«
»Die Freundin, die in der Höhle haust«, tippte Piper.
Rachel grinste. »Genau die.«
»Du bist also ein Orakel?«, frage Piper. »Du kannst die Zukunft voraussagen?«
»Eher überfällt die Zukunft mich ab und zu«, sagte Rachel. »Dann spreche ich Weissagungen aus. Der Geist des Orakels fährt sozusagen in mich hinein und redet wichtigen Kram, der für niemanden Sinn ergibt. Aber es stimmt, die Weissagungen sagen die Zukunft voraus.«
»Cool.« Piper trat von einem Fuß auf den anderen.
Rachel lachte. »Mach dir keine Sorgen. Alle finden das ein wenig unheimlich. Sogar ich. Aber meistens bin ich harmlos.«
»Bist du Halbgöttin?«
»Nö«, sagte Rachel. »Ganz normal sterblich.«
»Aber wieso bist du dann …« Piper zeigte auf die Hütte um sie herum.
Rachels Lächeln verblasste. Sie schaute kurz Annabeth und dann wieder Piper an. »Nur so eine Eingebung. Diese Hütte und Percys Verschwinden – die hängen irgendwie zusammen. Ich habe gelernt, meinen Eingebungen zu folgen, vor allem im letzten Monat, seit die Götter verstummt sind.«
»Verstummt?«, fragte Piper.
Rachel sah Annabeth stirnrunzelnd an. »Du hast es ihr noch nicht gesagt?«
»Ich war gerade dabei«, sagte Annabeth. »Piper, seit einem Monat … na ja, die Götter reden sowieso nicht sehr viel mit ihren Kindern, aber ab und zu kommt doch eine Mitteilung. Einige von uns dürfen sogar den Olymp besuchen. Ich habe fast das ganze Schuljahr im Empire State Building verbracht.«
»Wo?«
»Das ist derzeit der Eingang zum Olymp.«
»Ach so«, sagte Piper. »Klar, wieso auch nicht?«
»Annabeth hat den Olymp neu gestaltet, nachdem er im Titanenkrieg verwüstet worden war«, erklärte Rachel. »Sie ist eine umwerfende Architektin. Du solltest bloß mal die Salatbar sehen …«
»Wie auch immer«, sagte Annabeth. »Vor ungefähr einem Monat verstummte der Olymp. Der Eingang wurde verschlossen und niemand hatte mehr Zutritt. Niemand weiß warum. Es ist so, als ob die Götter sich abgekapselt hätten. Nicht einmal meine Mom reagiert auf meine Gebete, und unser Campdirektor Dionysos wurde zurückberufen.«
»Euer Campdirektor war der Gott des … Weines?«
»Ja, das ist …«
» … eine lange Geschichte«, tippte Piper. »Okay. Weiter.«
»Das war’s eigentlich schon«, sagte Annabeth. »Halbgötter werden zwar noch anerkannt, aber das ist alles. Keine Mitteilungen. Keine Besuche. Kein Anzeichen dafür, dass die Götter uns überhaupt hören. So, als ob etwas passiert wäre – etwas wirklich Schlimmes. Und dann ist Percy verschwunden.«
»Und bei unserer Exkursion ist Jason aufgetaucht«, fügte Piper hinzu. »Ohne Gedächtnis.«
»Wer ist Jason?«, fragte Rachel.
»Mein …« Piper unterbrach sich, ehe sie »Freund«, sagen konnte, aber vor Anstrengung tat ihre Brust weh. »Ein Kumpel. Aber Annabeth, du hast gesagt, Hera hat dir eine Traumvision geschickt.«
»Richtig«, sagte Annabeth. »Die erste Kontaktaufnahme einer Gottheit seit einem Monat, und dann ausgerechnet durch Hera, die am wenigsten hilfsbereite von allen, und sie wendet sich an mich, die Halbgöttin, die sie am wenigsten leiden kann. Sie hat mir mitgeteilt, dass ich erfahren werde, was mit Percy passiert ist, wenn ich zur Aussichtsplattform über dem Grand Canyon fahre und Ausschau nach einem Jungen mit nur einem Schuh halte. Und dann finde ich euch, und der Typ mit dem einen Schuh ist Jason. Das ergibt doch alles keinen Sinn.«
»Irgendwas Schlimmes ist im Busche«, stimmte Rachel zu. Sie sah Piper an und Piper hätte ihr nur zu gern von ihrem Traum erzählt und gestanden, dass sie wusste, was es war, jedenfalls teilweise. Und das Schlimme fing ja gerade erst an.
»Leute«, sagte Piper. »Ich … ich muss …«
Doch ehe sie weiterreden konnte, erstarrte Rachel. Ihre Augen glühten grünlich und sie packte Piper an den Schultern.
Piper versuchte, sich loszureißen, aber Rachels Hände waren wie Stahlklammern.
Befreie mich, sagte sie. Aber es war nicht Rachels Stimme. Es klang wie eine ältere Frau, von weit weg, wie durch eine lange, widerhallende Röhre. Befreie mich, Piper McLean, oder die Erde wird uns verschlingen. Es muss bis zur Sonnenwende gelingen.
Der Raum fing an, sich zu drehen. Annabeth versuchte, Piper von Rachel zu trennen, aber das war unmöglich. Grüner Rauch hüllte sie ein, und Piper wusste nicht mehr, ob sie wach war oder träumte. Die riesige Statue der Göttin schien sich von ihrem Thron zu erheben; sie beugte sich über Piper und durchbohrte sie mit Blicken. Der Mund der Statue öffnete sich, ihr Atem war wie entsetzlich starkes Parfüm. Sie sprach mit derselben hallenden Stimme weiter. Unsere Feinde rühren sich. Der Feurige ist nur der Erste. Ergib dich seinem Willen, und ihr König wird sich erheben und uns alle vernichten. BEFREIE MICH!
Pipers Knie gaben nach und alles wurde schwarz.
V
Leo
Leo fand die Führung durch das Camp so lange großartig, bis er von dem Drachen erfuhr.
Der Bogenschütze, Will Solace, schien ziemlich cool zu sein. Alles, was er Leo zeigte, war so umwerfend, es hätte verboten sein müssen. Echte griechische Kriegsschiffe waren am Strand vertäut und manchmal wurden dort Trainingskämpfe mit brennenden Pfeilen und Sprengstoff ausgeführt? Super. Es gab Unterricht in Werken, wo man mit Kettensägen und Schweißgeräten Skulpturen herstellen konnte? Leo wollte immer nur wo kann ich mich anmelden rufen. In den Wäldern wimmelte es nur so von gefährlichen Monstern und niemand sollte allein reingehen? Cool. Und im Camp wimmelte es geradezu von gut aussehenden Mädchen. Leo kapierte das mit der Götterverwandtschaft nicht so ganz, aber er hoffte, das bedeutete nicht, dass er der Vetter all dieser Damen war. Das wäre absolut daneben. Außerdem wollte er sich noch einmal diese Unterwassermädels im See ansehen. Die waren es ja wohl wert, dass man für sie ertrank.
»Kriege ich ein Schwert?«, fragte Leo.
Will sah ihn an, als wäre ihm gar nicht wohl bei dieser Vorstellung. »Du wirst vermutlich dein eigenes schmieden, wo du doch in Hütte 9 bist.«
»Ach ja, was soll das eigentlich? Das mit Vulkan?«