»Wir nennen die Götter normalerweise nicht bei ihren römischen Namen«, sagte Will. »Die ursprünglichen Namen sind griechisch. Dein Dad ist Hephaistos.«
»Festus?« Leo hatte diesen Namen ja schon gehört, aber er war noch immer verärgert. »Hört sich an wie der Gott der Cowboys.«
»Hephaistos,«, korrigierte Will. »Gott der Schmiede und des Feuers.«
Auch das hatte Leo schon gehört, aber er versuchte, nicht darüber nachzudenken. Der Gott des Feuers … echt? Wenn er daran dachte, was seiner Mom passiert war, klang das wie ein übler Witz.
»Und der flammende Hammer über meinem Kopf«, fragte Leo, »ist das gut oder schlecht?«
Will brauchte eine Weile, um zu antworten. »Du bist fast sofort anerkannt worden. Meistens ist das gut.«
»Aber dieser Regenbogenheini, Butch – der hat da so einen Fluch erwähnt.«
»Ach, vergiss es. Seit der letzte Hüttenälteste von Hütte 9 gestorben ist …«
»Gestorben? Auf schmerzhafte Weise, meinst du?«
»Ich würde es gern deinen Mitbewohnern überlassen, dir davon zu erzählen.«
»Na gut, aber wo ist meine bucklige Verwandtschaft? Müsste mir nicht der Hüttenälteste die VIP-Tour verpassen?«
»Der, äh, ist verhindert. Du wirst noch sehen, warum.« Will lief weiter, ehe Leo noch mehr Fragen stellen konnte.
»Flüche und Tod«, sagte Leo zu sich selbst. »Das wird ja immer besser.«
Er hatte die Rasenfläche zur Hälfte hinter sich gebracht, als er seine alte Babysitterin entdeckte. Und sie war nicht gerade jemand, den er in einem Camp für Halbgötter erwartet hätte.
Leo erstarrte.
»Was ist los?«, fragte Will.
Tía Callida – Tante Callida, so hatte sie sich genannt, und Leo hatte sie mit fünf Jahren zuletzt gesehen. Sie stand einfach nur da, im Schatten einer großen weißen Hütte am Ende des Rasens, und beobachtete ihn. Sie trug ihr schwarzes leinenes Witwenkleid und hatte sich ein schwarzes Tuch über die Haare gelegt. Ihr Gesicht hatte sich nicht geändert – lederne Haut, stechende dunkle Augen. Ihre runzligen Hände waren wie Krallen. Sie sah uralt aus, aber genauso wie in Leos Erinnerung.
»Die alte Dame da …«, sagte Leo. »Was macht die hier?«
Will versuchte, seinem Blick zu folgen. »Was für eine alte Dame?«
»Dussel, die alte Dame da. Die in Schwarz. Wie viele alte Damen siehst du denn da drüben?«
Will runzelte die Stirn. »Ich glaube, du hast einen langen Tag hinter dir. Der Nebel spielt deinen Augen noch immer Streiche. Wir wär’s, wenn wir jetzt zu deiner Hütte gehen?«
Leo wollte schon widersprechen, aber als er sich zu der großen weißen Hütte umdrehte, war Tía Callida verschwunden. Er war ganz sicher, dass sie dort gewesen war, fast, als hätte die Erinnerung an seine Mom Callida aus der Vergangenheit herzitiert.
Und das war nicht gut, denn Tía Callida hatte versucht, ihn umzubringen.
»Sollte ja nur ein Witz sein, Mann.« Leo zog einige Schalter und Hebel aus der Tasche und machte sich daran zu schaffen, um seine Nerven zu beruhigen. Er konnte nicht zulassen, dass das ganze Camp ihn für verrückt hielt. Jedenfalls nicht für verrückter, als er ohnehin schon war.
»Na, dann auf zu Hütte 9«, sagte er. »So ein schöner Fluch ist genau das, was ich jetzt brauche.«
Von außen sah die Hephaistos-Hütte aus wie ein überdimensionales Wohnmobil mit glänzenden Metallwänden und Metallblenden vor den Fenstern. Der Eingang war wie der zu einem Banksafe, rund und fast einen Meter dick. Er öffnete sich, indem diverse Messinggeräte sich drehten und hydraulische Kolben Dampf ausstießen.
Leo stieß einen Pfiff aus. »Die sind hier ganz schön auf dem Steampunk-Trip, was?«
Von innen wirkte die Hütte verlassen. Stahlbetten lehnten zusammengeklappt an den Wänden, wie Hightech-Klappbetten. Jedes hatte eine digitale Kontrollkonsole, blinkende LED-Lampen, glühende Kontrolllichter und Zahnräder. Leo vermutete, dass jeder Hüttenbewohner seine eigene Zifferkombination hatte, um sein Bett auszuklappen, und dass dahinter vermutlich ein Alkoven lag, mit Stauraum und vielleicht auch Fallen, um sich unerwünschte Besucher vom Hals zu halten. So hätte Leo es jedenfalls entworfen. Vom Obergeschoss kam eine Rutschstange herunter, auch wenn die Hütte von außen gar nicht aussah, als ob sie ein Obergeschoss hätte. Eine runde Treppe führte in eine Art Untergeschoss. Die Wände waren mit jeglicher Art von Elektrowerkzeug behängt, die Leo sich vorstellen konnte, dazu mit einer riesigen Auswahl an Messern, Schwertern und anderen Vernichtungsinstrumenten. Ein großer Arbeitstisch bog sich nur so unter Metallschrott – Schrauben, Bolzen, Unterlegscheiben, Nägeln, Nieten und einer Million anderer Maschinenteile. Leo hätte sie nur zu gern allesamt in seine Jackentaschen gesteckt. Er liebte solche Dinge. Aber er hätte über hundert Jacken gebraucht, um alles unterzubringen.
Als er sich umschaute, konnte er sich fast einbilden wieder in der Werkstatt seiner Mom zu stehen. Nicht wegen der Waffen – wegen der Werkzeuge, der Schrotthaufen, des Geruchs von Fett und Metall und heißen Motoren. Sie würde sich hier ungeheuer wohlfühlen.
Er verdrängte diesen Gedanken. Er mochte schmerzhafte Erinnerungen nicht. Immer weiter war sein Motto. Nicht auf den Dingen herumbrüten. Nicht zu lange an einem Ort bleiben. Nur auf diese Weise konnte er seiner Traurigkeit davonlaufen.
Er nahm ein langes Gerät von der Wand. »Ein Unkrautjäter? Was will der Gott des Feuers mit einem Unkrautjäter?«
Eine Stimme in den Schatten sagte: »Du würdest staunen.«
Eins der Etagenbetten hinten im Raum war belegt. Ein Vorhang aus dunklem Tarnmaterial glitt zur Seite und Leo sah einen Typen, der eine Sekunde zuvor noch unsichtbar gewesen war. Er konnte nicht viel erkennen, denn der Typ war am ganzen Körper eingegipst. Sein Kopf war in Mullverbände gewickelt und nur sein geschwollenes und zerschrammtes Gesicht war zu sehen. Er sah aus wie der Michelinmann nach einer Schlägerei.
»Ich bin Jake Mason«, sagte der Typ. »Ich würde dir ja die Hand geben, aber …«
»Schon klar«, sagte Leo. »Brauchst nicht aufzustehen.«
Der Typ grinste und zuckte dann zusammen. Offenbar tat es weh, wenn er sein Gesicht bewegte. Leo hätte gern gewusst, was mit ihm passiert war, traute sich aber nicht zu fragen.
»Willkommen in Hütte 9«, sagte Jake. »Hatten fast seit einem Jahr keine Neuzugänge mehr. Ich bin vorübergehend Hüttenältester.«
»Vorübergehend?«, fragte Leo.
Will Solace räusperte sich. »Wo sind denn alle, Jake?«
»Unten in der Schmiede«, sagte Jake sehnsüchtig. »Sie arbeiten an … du weiß schon, am Problem.«
»Oh.« Will wechselte das Thema. »Wie ist es, habt ihr noch ein Bett für Leo?«
Jake betrachtete Leo abschätzend. »Du glaubst an Flüche, Leo? Und Gespenster?«
Ich habe eben meine grausame Babysitterin Tía Callida gesehen, dachte Leo. Nach so vielen Jahren muss sie längst tot sein. Und es vergeht kein Tag, ohne dass ich an meine Mom bei dem Werkstattbrand denke. Erzähl mir also nichts über Gespenster, Michelinmann.
Aber laut sagte er: »Gespenster? Nö. Da bin ich ganz gelassen. Heute Morgen hat mich ein Sturmgeist in den Grand Canyon geschubst, aber du weißt ja, so ist das Leben.«
Jake nickte. »Das ist gut. Denn ich gebe dir das beste Bett in der Hütte – Beckendorfs.«
»Meine Güte, Jake«, sagte Will. »Bist du sicher?«
Jake rief: »Bett 1A, bitte.«
Die ganze Hütte dröhnte. Ein runder Teil des Bodens wurde hochgefahren wie eine Kameralinse, und ein Bett tauchte auf. Der Bronzerahmen hatte am Fußende eine eingebaute Gamestation, im Kopfende gab es eine Stereoanlage, darunter war ein Kühlschrank mit Glastür eingebaut und an der Seite zog sich eine ganze Reihe von Kontrollleisten entlang.
Leo sprang sofort hinein, ließ sich zurücksinken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Damit kann ich leben.«
»Du kannst es in ein Privatzimmer darunter versenken«, sagte Jake.
»Ach ja, klar«, sagte Leo. »Dann bis später. Ich bin jetzt erst mal in der Leo-Höhle. Auf welchen Knopf muss ich drücken?«