»Das ist das Metall?«
Sie nickte. »Am Olymp abgebaut. Überaus selten. Und normalerweise bringt es Monster schon durch Berührung zum Zerfallen, aber die großen Mächtigen haben gemein zähe Haut. Drakone zum Beispiel …«
»Du meinst Drachen?«
»Eine besondere Art. Den Unterschied lernst du später im Monsterbekämpfungsunterricht.«
»Monsterbekämpfung. Ja, da hab ich schon den schwarzen Gürtel.«
Sie rang sich noch immer kein Lächeln ab. Leo hoffte, dass sie nicht immer so ernst war. Die Familie seines Dads musste doch wohl irgendeinen Sinn für Humor haben!
Sie kamen an zwei Typen vorbei, die eine Art Bronzespielzeug zum Aufziehen bauten. Es war ein kleiner Zentaur – halb Mann, halb Pferd –, bewaffnet mit einem winzigen Bogen. Einer der Jungs drückte auf den Schwanz des Zentauren und die Figur erwachte zum Leben. Sie galoppierte über den Tisch, schrie »Stirb, Moskito, stirb!« und schoss auf alles, was sie entdecken konnte.
Das passierte offenbar nicht zum ersten Mal, denn alle ließen sich zu Boden fallen, nur Leo nicht. Sechs nadelgroße Pfeile hingen in seinem Hemd fest, ehe jemand einen Hammer schnappte und den Zentauren in Stücke schlug. »Dieser blöde Fluch!« Er drohte dem Himmel mit dem Hammer. »Ich will doch nur einen magischen Insektenkiller. Ist das wirklich zu viel verlangt?«
»Aua«, sagte Leo.
Nyssa zog ihm die Nadeln aus dem Hemd. »Ach, nichts passiert. Lass uns weitergehen, ehe sie ihn wieder zusammensetzen.«
Leo rieb sich im Gehen die Brust. »Passiert so was oft?«
»Neuerdings ja«, sagte Nyssa. »Alles, was wir bauen, verwandelt sich in Schrott.«
»Ist das der Fluch?«
Nyssa runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht an Flüche. Aber irgendetwas stimmt hier nicht. Und wenn wir das Drachenproblem nicht lösen können, wird alles noch schlimmer werden.«
»Das Drachenproblem?« Leo hoffte, dass sie über einen Minidrachen redete, vielleicht einen, der Kakerlaken umbrachte, aber er hatte das Gefühl, dass er nicht so viel Glück haben würde.
Nyssa führte ihn zu einer große Wandkarte, vor der zwei Mädchen standen. Die Karte zeigte das Camp – eine runde Halbinsel, mit dem Long Island Sound am Nordufer, den Wäldern im Westen, den Hütten im Osten und der Hügelkette im Süden.
»Er muss in den Hügeln sein«, sagte das eine Mädchen.
»Aber da haben wir schon nachgesehen«, widersprach die andere. »Der Wald wäre ein besseres Versteck.«
»Aber dort haben wir schon Fallen ausgelegt …«
»Moment mal«, sagte Leo. »Ihr habt einen Drachen verloren? Einen echten lebensgroßen Drachen?«
»Es ist ein Bronzedrache«, sagte Nyssa. »Ein lebensgroßer Automat. Die Hephaistos-Hütte hat ihn vor Jahren gebaut. Dann ist er im Wald verloren gegangen und vor ein paar Sommern hat Beckendorf seine Bestandteile gefunden und wieder zusammengesetzt. Er hat geholfen, das Camp zu beschützen, aber er ist, äh, nicht ganz zuverlässig.«
»Nicht ganz zuverlässig«, sagte Leo.
»Er dreht manchmal durch und reißt Hütten ein, zündet Leute an oder versucht, die Satyrn zu fressen.«
»Das ist ganz schön unzuverlässig.«
Nyssa nickte. »Beckendorf war der Einzige, der mit ihm fertig wurde. Dann ist er gestorben und der Drache trieb es immer schlimmer. Am Ende lief er Amok und ist abgehauen. Ab und zu lässt er sich blicken, schlägt alles zu Klump und haut wieder ab. Alle erwarten, dass wir ihn finden und zerstören …«
»Ihn zerstören?« Leo war außer sich. »Ihr habt einen lebensgroßen Bronzedrachen und wollt ihn zerstören?«
»Er spuckt Feuer«, erklärte Nyssa. »Er ist lebensgefährlich und total außer Kontrolle.«
»Aber es ist ein Drache! Mann, das ist doch umwerfend. Könnt ihr nicht versuchen, mit ihm zu reden, ihn zur Vernunft zu bringen?«
»Das haben wir schon versucht. Jake Mason hat es versucht. Du hast ja gesehen, was dabei herausgekommen ist.«
Leo dachte an Jake, der von Kopf bis Fuß eingegipst war und allein in seinem Bett lag. »Trotzdem …«
»Uns bleibt keine andere Wahl.« Nyssa wandte sich an die anderen Mädchen. »Wir versuchen es mit noch mehr Fallen im Wald: hier, hier und hier. Und legt Motoröl als Köder aus.«
»Das trinkt der Drache?«, fragte Leo.
»Ja.« Nyssa seufzte traurig. »Er mag es am liebsten mit etwas Tabascosoße, gleich vor dem Schlafengehen. Wenn er in eine Falle gerät, können wir mit Säurespraygeräten kommen – damit müssten wir seine Haut schmelzen können. Dann nehmen wir Metallschneider und … beenden die Sache.«
Alle sahen ziemlich traurig aus. Leo ging auf, dass sie ebenso wenig Lust hatten, den Drachen umzubringen, wie er.
»Mann, Leute«, sagte er. »Es muss doch eine andere Möglichkeit geben.«
Nyssa schien ihre Zweifel zu haben, aber einige andere unterbrachen ihre Arbeit und kamen herüber, um zuzuhören.
»Was denn?«, fragte einer. »Das Ding spuckt Feuer. Wir können uns nicht mal in seine Nähe wagen.«
Feuer, dachte Leo. Himmel, denen könnte er so allerlei über Feuer erzählen … Aber er musste vorsichtig sein, auch wenn das hier seine Geschwister waren. Vor allem, wenn er mit ihnen leben müsste.
»Na ja …« Er zögerte. »Hephaistos ist der Gott des Feuers, oder? Habt ihr denn allesamt keinerlei Feuerresistenz?«
Niemand schien das für eine verrückte Frage zu halten, was eine Erleichterung war, aber Nyssa schüttelte ernst den Kopf.
»Das ist eine Zyklopenbegabung, Leo. Halbgottkinder des Hephaistos … wir sind nur geschickt mit unseren Händen. Wir bauen Dinge, sind Handwerker, Waffenschmiedinnen – so was.«
Leo ließ die Schultern hängen. »Okay.«
Ein Junge weiter hinten sagte: »Na ja, vor langer Zeit …«
»Ja, schon gut«, fiel Nyssa ihm ins Wort. »Vor langer Zeit gab es einige Kinder des Hephaistos, die das Feuer in ihrer Gewalt hatten. Aber diese Fähigkeit war sehr, sehr selten. Und immer gefährlich. Seit Jahrhunderten ist kein solcher Halbgott mehr geboren worden. Der letzte …« Sie sah Hilfe suchend ihre Nachbarin an.
»Sechzehnhundertsechsundsechzig«, sagte das Mädchen. »Ein gewisser Thomas Faynor. Er hat das große Feuer von London ausgelöst, hat fast die ganze Stadt abgefackelt.«
»Genau«, sagte Nyssa. »Wenn so ein Kind des Hephaistos auftaucht, dann bedeutet das meistens, dass eine Katastrophe bevorsteht. Und weitere Katastrophen müssen wir jetzt nicht haben.«
Leo versuchte, ein ausdrucksloses Gesicht zu machen, was nicht gerade seine Stärke war. »Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Ist aber schade. Wenn ihr Flammen widerstehen könntet, könntet ihr vielleicht an den Drachen rankommen.«
»Aber dann würde er uns mit seinen Krallen und Fangzähnen umbringen«, sagte Nyssa. »Oder uns einfach zertreten. Nein, wir müssen ihn zerstören. Glaub mir, wenn irgendwer eine andere Lösung finden könnte …«
Sie beendete den Satz nicht, aber Leo hatte verstanden. Wenn sie etwas schaffen könnten, was nur Beckendorf geschafft hatte, wenn sie den Drachen bezwingen könnten, ohne ihn zu töten, würde der Fluch vielleicht von ihnen genommen werden. Aber ihnen waren die Ideen ausgegangen. Wer immer die Lösung fand, würde als Held dastehen.
In der Ferne wurde ein Muschelhorn geblasen. Die anderen packten ihre Werkzeuge und Arbeiten ein. Leo hatte gar nicht gemerkt, dass es schon so spät war, aber nun schaute er aus dem Fenster und sah, dass die Sonne unterging. Sein ADHD hatte manchmal diese Wirkung. Wenn er sich langweilte, schien eine Unterrichtsstunde von fünfzig Minuten sechs Stunden zu dauern. Wenn er sich für etwas interessierte, wie diesen Rundgang durch ein Camp für Halbgötter, dann flogen die Stunden nur so dahin und boing – schon war der Tag vorbei.
»Abendessen«, sagte Nyssa. »Komm, Leo.«
»Oben im Pavillon, ja?«, fragte er.
Sie nickte.
»Geht schon mal vor«, sagte Leo. »Lasst mir … noch eine Sekunde Zeit.«
Nyssa zögerte. Dann wurde ihre Miene weicher. »Sicher. Du hast eine Menge zu verarbeiten. Ich kann mich auch noch an meinen ersten Tag erinnern. Komm nach, wenn du so weit bist. Nur fass hier nichts an. So ungefähr jedes Projekt hier kann dich umbringen, wenn du nicht vorsichtig bist.«