»Klar«, versprach Leo.
Seine Hüttengenossen verließen die Schmiede. Bald war Leo allein mit dem Lärm der Blasebälge, Wasserräder und kleinen Maschinen, die klickten und brummten.
Er starrte die Karte des Camps an – die Orte, wo seine frischgefundenen Geschwister Fallen aufstellen wollten, um einen Drachen zu fangen. Es war falsch. Einfach total falsch.
Er streckte die Hand aus und betrachtete seine Finger. Sie waren lang und dünn, nicht schwielig wie die der anderen HephaistosLeute. Leo war nie besonders groß oder stark gewesen. Er hatte in harten Vierteln überlebt, in harten Schulen und harten Pflegefamilien, aber nur, weil er seinen Verstand benutzt hatte. Er war der Klassenclown, der Hofnarr, weil er schon früh gelernt hatte, wenn man Witze machte und den Furchtlosen spielte, wurde man meistens nicht zusammengeschlagen. Sogar die miesesten Gangsterkids konnten einen dann tolerieren, ließen einen in Ruhe, damit sie etwas zum Lachen hatten. Und Humor war eine gute Möglichkeit, den Schmerz zu verstecken. Wenn das nicht klappte, gab es immer noch Plan B. Weglaufen. Wieder und wieder.
Es gab auch einen Plan C, aber er hatte sich geschworen, den nie wieder anzuwenden.
Doch jetzt hatte er den Drang, es zu versuchen – etwas, was er seit dem Unfall, seit dem Tod seiner Mom nicht mehr getan hatte.
Er streckte die Finger aus und fühlte sie prickeln, als ob sie eingeschlafen gewesen wären. Dann erwachten züngelnd Flammen zum Leben und Locken aus rot glühendem Feuer tanzten über seine Handfläche.
VII
Jason
Kaum hatte Jason das Haus gesehen, da wusste er, dass er keine Chance hatte.
»Da wären wir«, sagte Drew fröhlich. »Das Hauptgebäude, unser Hauptquartier im Camp.«
Es sah nicht bedrohlich aus, nur ein vierstöckiges Gutshaus, babyblau gestrichen und mit weißen Kanten. Auf der Veranda, die sich um das ganze Haus zog, standen Ruhesessel, ein Kartentisch und ein leerer Rollstuhl. Windharfen, die wie Nymphen aussahen, verwandelten sich beim Drehen in Bäume. Jason konnte sich vorstellen, wie alte Leute hier in den Sommerferien auf der Veranda saßen und an Pflaumensaft nippten, während sie sich den Sonnenuntergang ansahen. Trotzdem schienen die Fenster ihn wie wütende Augen anzustarren und die weit offene Tür schien ihn verschlingen zu wollen. Am höchsten Giebel drehte sich ein bronzener Wetteradler im Wind und zeigte genau auf ihn, als wolle er ihm raten, kehrtzumachen.
Jedes Molekül in Jasons Körper sagte ihm, dass er sich hier auf feindlichem Boden befand.
»Ich sollte eigentlich nicht hier sein«, sagte er.
Drew hakte sich bei ihm ein. »Also bitte. Du bist hier genau am richtigen Ort, Süßer. Glaub mir, ich habe schon eine Menge Helden gesehen.«
Drew roch nach Weihnachten – eine seltsame Mischung von Fichten und Muskat. Jason hätte gern gewusst, ob sie immer so roch oder ob das eine Art besonderes Parfüm für die Ferien war. Ihr rosa Lidstrich war wirklich verwirrend. Immer, wenn sie blinzelte, musste er sie einfach anschauen. Vielleicht war das ja der Sinn der Sache, sie wollte ihre warmen braunen Augen vorführen. Sie war hübsch. Das war klar. Aber Jason fühlte sich unwohl, wenn er so dicht bei ihr war. Er befreite seinen Arm, so vorsichtig er konnte. »Hör mal, ich bin ja dankbar …«
»Ist es wegen der?« Drew machte einen Schmollmund. »Also bitte, erzähl mir nicht, du hast was mit der Müllkönigin.«
»Du meinst Piper? Äh …«
Jason wusste nicht, was er sagen sollte. Er glaubte nicht, Piper vor diesem Tag je gesehen zu haben, aber fühlte sich deshalb auf seltsame Weise schuldig. Er wusste, dass er nicht hier sein dürfte. Er dürfte sich mit diesen Leuten nicht anfreunden, und mit einer von ihnen ein Date haben schon gar nicht. Aber dennoch … Piper hatte seine Hand gehalten, als er in dem Bus zu sich gekommen war. Sie hielt sich für seine Freundin. Am Grand Canyon war sie tapfer gewesen, als sie die Venti abgewehrt hatte, und als Jason sie im Sturz aufgefangen hatte und sie sich umarmt hatten, hatte er sich durchaus ein wenig versucht gefühlt, sie zu küssen, das konnte er nicht leugnen. Aber es war nicht richtig. Er kannte seine eigene Geschichte nicht. Da konnte er nicht mit ihren Gefühlen spielen.
Drew verdrehte die Augen. »Ich kann dir bei der Entscheidung helfen, Süßer. Du hast etwas Besseres verdient. Ein Typ mit deinem Aussehen und deinem offenkundigen Talent!«
Sie sah ihn allerdings nicht an. Sie starrte auf einen Punkt direkt über seinem Kopf.
»Du wartest auf ein Zeichen«, tippte er. »Wie das, das über Leos Kopf aufgetaucht ist.«
»Was? Nein! Na ja … schon. Ich meine, nach allem, was ich gehört habe, bist du ganz schön mächtig, oder? Du wirst hier im Camp eine wichtige Rolle spielen, da gehe ich doch davon aus, dass dein göttlicher Elternteil dich sofort anerkennen wird. Und das möchte ich zu gern sehen. Ich möchte auf Schritt und Tritt bei dir sein. Also, wer ist bei dir göttlich, dein Dad oder deine Mom? Bitte, sag, dass es nicht deine Mom ist. Ich würde es schrecklich finden, wenn du ein Kind der Aphrodite wärst.«
»Warum?«
»Dann wärst du mein Halbbruder, du Dussel. Du kannst kein Date mit jemandem aus deiner eigenen Hütte haben. Himmel!«
»Aber sind nicht sowieso alle Götter miteinander verwandt?«, fragte Jason. »Und damit alle hier unsere Vettern oder Kusinen oder so?«
»Ach, bist du niedlich! Süßer, die göttliche Seite deiner Familie gilt nur, was deinen Elternteil angeht. Alle aus anderen Hütten – da hast du freie Bahn. Also, wer ist nun dein göttlicher Elternteil – Mom oder Dad?«
Wie üblich hatte Jason keine Antwort darauf. Er schaute auf, aber kein glühendes Zeichen erschien über seinem Kopf. Auf dem Hauptgebäude zeigte die Wetterfahne noch immer auf ihn und der Bronzeadler starrte ihn an, als wolle er sagen: Mach kehrt, Kleiner, solange du das noch kannst.
Dann hörte er Schritte auf der Veranda vor dem Haus. Nein, keine Schritte: Hufschlag.
»Chiron!«, rief Drew. »Das ist Jason. Er ist einfach umwerfend!«
Jason wich so schnell zurück, dass er fast gestolpert wäre. Auf der Veranda bog ein Reiter um die Hausecke. Nur war er kein Reiter – er war ein Teil des Pferdes. Von der Hüfte nach oben sah er aus wie ein Mensch, mit braunen Locken und einem gepflegten Bart. Er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift Bester Zentaur der Welt und hatte einen Köcher und einen Bogen umgeschnallt. Sein Kopf war so hoch oben, dass er ihn einziehen musste, um den Lampen an der Verandadecke auszuweichen, denn von der Hüfte abwärts war er ein weißer Hengst.
Chiron wollte Jason schon anlächeln. Dann wich die Farbe aus seinem Gesicht.
»Du …« Die Augen des Zentauren irrten umher wie die eines bedrohten Tieres. »Du müsstest tot sein.«
Chiron befahl Jason – na ja, er lud ihn ein, aber es hörte sich an wie ein Befehl –, mit ins Haus zu kommen. Er schickte Drew zurück in ihre Hütte, und Drew sah darüber gar nicht glücklich aus.
Dann trabte er zu dem leeren Rollstuhl. Er ließ Köcher und Bogen zu Boden fallen und schob sich rückwärts in den Stuhl, der sich wie ein Zauberkasten öffnete. Chiron trat mit seinen Hinterbeinen geschickt hinein und verstaute sich darin, obwohl er viel zu klein für ihn sein müsste. Jason stellte sich dazu die Geräusche vor, die ein Lastwagen im Rückwärtsgang macht, als die untere Hälfte des Zentauren verschwand, der Stuhl sich schloss und zwei künstliche Menschenbeine, die in eine Decke gewickelt waren, ausfuhr, so dass Chiron aussah wie ein ganz normaler Sterblicher in einem Rollstuhl.
»Mir nach«, befahl er. »Jetzt gibt’s Limonade.«
Das Wohnzimmer sah aus wie von einem Regenwald verschlungen. Schlingpflanzen wucherten an den Wänden und an der Decke, worüber Jason sich ein wenig wunderte. Er hätte nicht gedacht, dass im Haus Weinranken wuchsen, schon gar nicht im Winter, aber diese hier waren von üppigem Grün und bedeckt mit roten Traubendolden.