Jason starrte ihn verständnislos an.
»Nein, ich glaube, er meint es ernst.« Piper versuchte wieder, seine Hand zu nehmen, aber er zog sie weg.
»Tut mir leid«, sagt er. »Ich bin nicht – ich kann nicht …«
»Das reicht!«, schrie Trainer Hedge von vorn. »Die hintere Reihe hat sich soeben angeboten, nach dem Essen aufzuräumen.«
Die anderen im Bus jubelten.
»Jetzt bin ich aber schockiert«, murmelte Leo.
Aber Piper sah weiterhin Jason an und schien sich nicht entscheiden zu können, ob sie verletzt oder besorgt sein sollte. »Hast du dir irgendwo den Kopf gestoßen oder so was? Du weißt wirklich nicht, wer wir sind?«
Jason zuckte hilflos mit den Schultern. »Es ist sogar noch schlimmer. Ich weiß nicht, wer ich bin.«
Der Bus hielt vor einem roten stuckverzierten Gebäudekomplex, der aussah wie ein Museum und einfach mitten im Nirgendwo stand. Vielleicht war es das ja auch: das Nationalmuseum von Nirgendwo, dachte Jason. Ein kalter Wind fegte durch die Wüste. Jason hatte nicht besonders auf seine Kleidung geachtet, aber die war bei Weitem nicht warm genug. Jeans und Turnschuhe, ein lila T-Shirt und eine dünne schwarze Windjacke.
»Also ein Schnellkurs für den Mann mit dem Gedächtnisverlust«, sagte Leo in einem hilfsbereiten Tonfall, der Jason annehmen ließ, dass er ihm nicht die geringste Hilfe sein würde. »Wir gehen auf die ›Wüstenschule‹«, Leo machte mit den Fingern Anführungszeichen. »Das bedeutet, wir sind ›böse‹ Kinder. Deine Familie oder das Gericht oder wer auch immer haben beschlossen, dass du zu viel Ärger machst, und deshalb haben sie dich in dieses reizende Gefängnis – ich meine ›Internat‹ – in Armpit, Nevada verfrachtet, wo du wertvollen Naturkram lernst, wie pro Tag zehn Meilen durch die Kakteen zu rennen und aus Gänseblümchen Mützen zu flechten. Und als besonderen Leckerbissen gibt es ›Bildungsausflüge‹ mit Trainer Hedge, der mit einem Baseballschläger für Ordnung sorgt. Dämmert es dir jetzt wieder?«
»Nein.« Jason sah die anderen im Bus nachdenklich an. Etwa zwanzig Jungs, halb so viele Mädchen. Sie sahen allesamt nicht aus wie hartgesottene Kriminelle, aber er hätte gern gewusst, was sie angestellt hatten, um auf eine Schule für jugendliche Delinquenten geschickt zu werden – und er fragte sich auch, wie er zu ihnen geraten war.
Leo verdrehte die Augen. »Du willst das also voll ausreizen, was? Okay, wir drei sind in diesem Halbjahr neu hergekommen. Wir sind total unzertrennlich. Du tust alles, was ich dir sage, gibst mir immer deinen Nachtisch und übernimmst alle meine Aufgaben …«
»Leo!«, fauchte Piper.
»Schön. Vergiss den letzen Satz. Aber wir sind wirklich Freunde. Na ja, Piper ist sogar ein bisschen mehr, seit ein paar Wochen …«
»Leo, hör auf!« Pipers Gesicht rötete sich. Jason spürte, dass auch sein Gesicht glühte. Er würde sich doch erinnern, wenn er mit einem Mädchen wie Piper zusammen gewesen wäre.
»Er hat sein Gedächtnis verloren oder so was«, sagte Piper. »Wir müssen irgendwem Bescheid sagen.«
Leo schnaubte. »Wem denn, Trainer Hedge? Der würde versuchen, Jason mit einem Schlag auf den Kopf zu kurieren.«
Der Trainer stand vor der Gruppe, kläffte Befehle und blies in seine Trillerpfeife, damit alle in Reih und Glied stehenblieben, aber ab und zu schaute er wieder Jason an und runzelte die Stirn.
»Leo, Jason braucht Hilfe«, beharrte Piper. »Er hat eine Gehirnerschütterung oder …«
»Yo, Piper.« Einer der anderen Jungen blieb zurück, um sich ihnen anzuschließen, als die Gruppe das Museum ansteuerte. Er quetschte sich zwischen Jason und Piper und stieß Leo zu Boden. »Rede nicht mit diesen Verlierern. Ich bin dein Partner, vergiss das nicht.«
Der neue Typ hatte dunkle, im Superman-Stil geschnittene Haare, eine tiefe Bräune und so weiße Zähne, dass die eigentlich ein Warnschild gebraucht hätten: NICHT DIREKT AUF DIE ZÄHNE STARREN. ERBLINDUNGSGEFAHR.
»Hau ab, Dylan«, murrte Piper. »Ich hab nicht darum gebeten, mit dir zusammenzuarbeiten.«
»Sei doch nicht so. Heute ist dein Glückstag!« Dylan hakte sich bei ihr ein und zog sie ins Museum. Piper schaute sich ein letztes Mal um, als wollte sie um Hilfe rufen.
Leo stand auf und klopfte sich den Staub ab. »Ich hasse diesen Kerl.« Er bot Jason seinen Arm, als wollten auch sie zusammen durch den Museumseingang tänzeln. »Ich bin Dylan. Ich bin so cool, ich würde mich am liebsten selbst daten, aber ich weiß nicht, wie! Möchtest du mich stattdessen daten? Du hast ja vielleicht ein Glück!«
»Leo«, sagte Jason. »Du bist echt merkwürdig.«
»Ja, das sagst du mir immer wieder«, Leo grinste. »Aber wenn du dich sowieso nicht an mich erinnern kannst, dann kann ich alle meine alten Witze noch mal reißen. Jetzt komm!«
Wenn das hier sein bester Freund war, dann musste er ganz schön am Boden sein, fand Jason. Aber er folgte Leo ins Museum.
Sie gingen durch das Gebäude und blieben ab und zu stehen, damit Trainer Hedge ihnen mit seinem Megafon einen Vortrag halten konnte, wobei er abwechselnd wie ein Sith-Lord klang oder unsinnige Behauptungen blökte wie »Das Schwein sagt oink«.
Leo zog immer wieder Schraubenmuttern, Bolzen und Pfeifenreiniger aus den Taschen seiner Armeejacke und setzte sie zu irgendwas zusammen, als ob er seine Hände die ganze Zeit beschäftigen müsste.
Jason war zu sehr mit anderen Gedanken beschäftigt, um sich auf die Ausstellungsstücke zu konzentrieren, aber sie hatten alle mit dem Grand Canyon und dem Hualapai-Volk zu tun, dem das Museum gehörte.
Einige Mädchen sahen immer wieder zu Dylan und Piper hinüber und feixten. Jason ging davon aus, dass diese Mädchen die angesagte Clique bildeten. Sie trugen identische Jeans und rosa Tops und genug Make-up für eine Halloween-Party.
»He, Piper, gehört diese Bude hier deinem Stamm?«, sagte eine von ihnen. »Kommst du umsonst rein, wenn du einen Regentanz aufführst?«
Die anderen Mädchen lachten. Sogar Pipers sogenannter Partner Dylan unterdrückte ein Lächeln. Pipers Hände waren in ihrer Fleecejacke verborgen, aber Jason hatte das Gefühl, dass sie die Fäuste ballte.
»Mein Vater ist Cherokee«, sagte sie. »Nicht Hualapai. Aber man braucht natürlich ein paar Gehirnzellen, um den Unterschied zu kapieren, Isabel.« Isabel riss in gespielter Überraschung die Augen auf und sah aus wie eine schminksüchtige Eule. »Ach, tut mir leid. War vielleicht deine Mutter aus diesem Stamm? Ach, richtig. Deine Mutter hast du ja nie kennengelernt!«
Piper wollte sich auf sie stürzen, aber ehe es zu einem Kampf kommen konnte, bellte Trainer Hedge: »Das reicht dahinten. Benehmt euch, oder ich hole meinen Baseballschläger raus.«
Die Gruppe schlurfte weiter zum nächsten Ausstellungsstück, aber die Mädchen riefen Piper immer wieder kleine Kommentare zu.
»Nett, mal wieder im Reservat zu sein?«, säuselte die eine. »Ihr Dad ist vermutlich zu betrunken, um zu arbeiten«, sagte eine andere mit aufgesetztem Mitgefühl. »Nur deshalb ist sie Kleptomanin geworden.«
Piper achtete nicht auf sie, aber Jason hätte ihnen gern eine reingehauen. Er erinnerte sich zwar nicht an Piper und wusste nicht einmal, wer er selbst war, aber dass er Leute hasste, die andere schikanierten, das wusste er.
Leo packte seinen Arm. »Ganz ruhig bleiben. Piper will nicht, dass wir ihre Schlachten ausfechten. Abgesehen davon – wenn diese Mädels die Wahrheit über ihren Dad herausfänden, würden sie alle vor ihr auf den Knien liegen und kreischen ›Wir sind deiner nicht würdig!‹.«
»Warum? Was ist denn mit ihrem Dad?«
Leo lachte ungläubig. »Kein Witz? Du weißt wirklich nicht mehr, dass der Dad deiner Freundin …«
»Hör mal, ich wünschte, ich wüsste es noch, aber ich kann mich ja nicht mal an sie erinnern, von ihrem Dad ganz zu schweigen.«
Leo stieß einen Pfiff aus. »Wenn du es sagst. Wir müssen reden, wenn wir wieder im Wohnheim sind.«
Sie erreichten das andere Ende der Ausstellungshalle, wo große Glastüren auf eine Terrasse führten.