Dads Energie und Enthusiasmus verflogen. Er machte Jane ein Zeichen, sie solle warten. Dann kam er zu Piper zurück. Sie konnte den Ausdruck in seinen Augen nicht ertragen – als ob sie sein Vertrauen missbraucht hätte.
»Du hattest versprochen, dir Mühe zu geben, Piper«, sagte er.
»Dad, ich hasse diese Schule. Ich schaffe das nicht. Ich wollte dir ja von dem BMW erzählen, aber …«
»Du bist geflogen«, sagte er. »Ein Auto, Piper? Nächstes Jahr wirst du sechzehn. Ich würde dir jedes Auto kaufen, das du dir wünschst. Wie konntest du?«
»Du meinst, Jane würde mir ein Auto kaufen?«, sagte Piper. Sie kam einfach nicht dagegen an. Der Zorn flammte in ihr auf und brach sich Bahn. »Dad, hör mir doch einmal zu. Lass mich nicht warten, bis du deine blöden drei Fragen gestellt hast. Ich möchte auf eine normale Schule gehen. Ich möchte, dass du mit mir zum Elternabend gehst, nicht Jane. Oder unterrichte mich zu Hause! Ich habe so viel gelernt, als wir zusammen Bücher über Griechenland gelesen haben. Wir könnten das doch immer tun! Wir könnten …«
»Jetzt schieb es nicht auf mich«, sagte ihr Dad. »Ich gebe mir alle Mühe, Piper. Dieses Gespräch haben wir schon viel zu oft geführt.«
Nein, dachte sie, du hast dieses Gespräch soeben abgebrochen. Und das machst du seit Jahren.
Ihr Dad seufzte. »Jane hat mit der Polizei gesprochen und eine Einigung erzielt. Der Autohändler wird keine Anzeige erstatten, aber du musst dich bereit erklären, auf ein Internat in Nevada zu gehen. Sie sind spezialisiert auf Probleme … auf Kinder mit Anpassungsschwierigkeiten.«
»Das bin ich also«, ihre Stimme zitterte. »Ein Problem.«
»Piper … du wolltest es versuchen. Du hast mich enttäuscht. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.«
»Tu irgendwas«, sagte sie. »Aber tu es selbst. Lass es nicht von Jane erledigen. Du kannst mich nicht einfach wegschicken.«
Dad schaute in den Picknickkorb. Sein Sandwich lag unangerührt auf einem Stück Goldfolie. Sie hatten einen ganzen Nachmittag am Strand verbringen wollen. Jetzt war der Tag ruiniert.
Piper konnte nicht glauben, dass er Jane wirklich machen ließ. Nicht schon wieder. Nicht in einer so bedeutenden Frage wie einem Internat.
»Sprich mit ihr«, sagte Dad. »Sie erklärt dir die Einzelheiten.«
»Dad …«
Er wandte sich ab und starrte den Ozean an, als könnte er bis ins Geisterland sehen. Piper schwor sich, nicht zu weinen. Sie ging über den Strand auf Jane zu, die kalt lächelte und ein Flugticket hochhielt. Wie üblich hatte sie schon für alles gesorgt. Piper war einfach eins der Probleme dieses Tages, das Jane jetzt von ihrer Liste streichen konnte.
Pipers Traum änderte sich.
Sie stand nachts auf einem Berggipfel und unter ihr funkelten die Lichter einer Stadt. Vor ihr loderte ein Feuer. Die lila Flammen schienen mehr Schatten zu produzieren als Licht, aber es war so heiß, dass Pipers Kleider dampften.
»Dies ist die zweite Warnung«, dröhnte eine Stimme, so mächtig, dass die Erde bebte. Piper hatte die Stimme schon in anderen Träumen gehört. Sie hatte sich einreden wollen, sie sei nicht so unheimlich wie in ihrer Erinnerung, aber sie war sogar noch schlimmer.
Hinter dem Feuer ragte ein riesiges Gesicht aus der Finsternis hervor. Es schien über den Flammen zu schweben, aber Piper wusste, dass es zu einem gewaltigen Körper gehören musste. Die groben Züge hätten aus Stein gehauen sein können. Das Gesicht wirkte bis auf die stechenden weißen Augen kaum lebendig, sie blinkten wie ungeschliffene Diamanten in dem entsetzlichen Rahmen aus Dreadlocks, in die Menschenknochen eingeflochten waren. Das Gesicht lächelte und Piper zitterte.
»Du wirst tun, wie dir geheißen«, sagte der Riese. »Du wirst dich deinem Auftrag stellen. Gehorche, dann kommst du vielleicht lebend davon. Wenn nicht …«
Er zeigte neben das Feuer. Da hing Pipers Vater bewusstlos und gefesselt an einem Pfahl. Sie wollte schreien, sie wollte ihren Dad rufen und verlangen, dass der Riese ihn freigab, aber ihre Stimme gehorchte ihr nicht.
»Ich werde dich im Auge behalten«, sagte der Riese. »Höre auf mich, und ihr werdet beide leben. Darauf hast du das Wort des Enceladus. Hör nicht auf mich, und … na, ich habe Jahrtausende geschlafen, junge Halbgöttin. Ich habe sehr großen Hunger. Hör nicht auf mich, und ich werde gut essen.«
Der Riese brüllte vor Lachen. Die Erde bebte. Zu Pipers Füßen öffnete sich ein Abgrund und sie stürzte ins Dunkle.
Sie erwachte mit dem Gefühl, von einer irischen Stepptanztruppe niedergetrampelt worden zu sein. Ihre Brust tat weh und sie konnte kaum atmen. Sie streckte die Hand aus und schloss sie um den Griff des Dolchs, den Annabeth ihr gegeben hatte – Katoptris, die Waffe der schönen Helena.
Camp Half-Blood war also kein Traum gewesen.
»Wie fühlst du dich?«, fragte jemand.
Piper versuchte, sich zu konzentrieren. Sie lag in einem Bett mit einem weißen Vorhang auf einer Seite, wie in einem Krankenhauszimmer. Die Rothaarige, Rachel Dare, saß neben ihr. An der Wand hing ein Poster mit der Karikatur eines Satyrn, der Trainer Hedge beunruhigend ähnlich sah und dem ein Thermometer aus dem Mund ragte. Darunter stand: Hütet euch vor Ziegenpeter!
»Wo …« Pipers Stimme versagte, als sie den Typen neben der Tür sah.
Er sah aus wie ein typischer Surfer aus Kalifornien – kräftig und sonnengebräunt, bekleidet mit Shorts und einem T-Shirt. Aber er hatte am ganzen Körper Hunderte von blauen Augen – auf den Armen, auf den Beinen, in seinem Gesicht. Sogar seine Füße hatten Augen, die zwischen den Riemen seiner Sandalen zu ihr hochschauten.
»Das ist Argus«, sagte Rachel. »Unser Sicherheitschef. Er behält einfach alles im Auge … sozusagen.«
Argus nickte. Das Auge an seinem Kinn zwinkerte.
»Wo …?« Piper machte noch einen Versuch, hatte aber das Gefühl, durch einen Mund voll Watte zu reden.
»Du bist im Hauptgebäude«, sagte Rachel. »Im Campbüro. Wir haben dich nach deinem Zusammenbruch hier hochgebracht.«
»Du hast mich gepackt«, erinnerte Piper sich jetzt. »Heras Stimme …«
»Es tut mir so leid«, sagte Rachel. »Glaub mir, ich wollte wirklich nicht von ihr besessen werden. Chiron hat dich mit irgendeinem Nektar geheilt …«
»Nektar?«
»Der Göttertrank. In kleinen Mengen können Halbgötter damit geheilt werden, wenn er sie nicht – äh – zu Asche verbrennt.«
»Ach. Reizend.«
Rachel beugte sich vor. »Kannst du dich an deine Vision erinnern?«
Piper dachte einen entsetzlichen Moment lang, Rachel rede vom Traum mit dem Riesen. Dann ging ihr auf, dass Rachel das meinte, was in der Hütte der Hera geschehen war.
»Etwas stimmt nicht mit der Göttin«, sagte Piper. »Sie hat gesagt, ich soll sie befreien, als ob sie gefangen wäre. Sie hat behauptet, dass die Erde uns verschlingt, und einen Feurigen und etwas mit der Sonnenwende erwähnt.«
In der Ecke brummte Argus los. Seine Augen bewegten sich alle gleichzeitig.
»Hera hat Argus erschaffen«, erklärte Rachel. »Es ist deshalb sehr empfindlich, wenn es um ihre Sicherheit geht. Wir versuchen immer, ihn vom Weinen abzuhalten, denn beim letzten Mal, na, das war ein ganz schöne Überschwemmung.«
Argus schniefte. Er schnappte sich vom Nachttisch eine Handvoll Kleenex und wischte sich am ganzen Leib die Augen.
»Also …« Piper versuchte, nicht zu glotzen, als Argus sich die Tränen von den Ellbogen trocknete. »Was ist mit Hera passiert?«
»Das wissen wir nicht«, sagte Rachel. »Annabeth und Jason waren übrigens auch hier. Jason wollte dich nicht verlassen, aber Annabeth hatte eine Idee – etwas, das seine Erinnerung zurückbringen könnte.«