»Das wäre … großartig.«
Jason war hier gewesen? Sie wünschte, sie sei dabei bei Bewusstsein gewesen. Und wenn er seine Erinnerung zurückbekäme, wäre das überhaupt gut? Sie hoffte noch immer, dass sie einander wirklich kannten. Ihre Beziehung sollte kein Nebeltrick sein.
Reiß dich zusammen, dachte sie. Wenn sie ihren Dad retten wollte, dann spielte es keine Rolle, ob Jason sie mochte oder nicht. Am Ende würde er sie sowieso hassen. Das würden alle hier.
Sie schaute den Zeremoniendolch an ihrer Seite an. Annabeth hatte gesagt, er sei ein Zeichen für Macht und Status und werde im Kampf normalerweise nicht verwendet. Nur Show und keine Substanz. Eine Täuschung, genau wie Piper. Und sein Name war Katoptris: Spiegel. Sie wagte nicht, den Dolch noch einmal aus der Scheide zu ziehen, denn sie könnte es nicht ertragen, ihr Spiegelbild zu sehen.
»Keine Sorge«, Rachel drückte ihren Arm. »Jason scheint in Ordnung zu sein. Er hatte auch eine Vision, ähnlich wie deine. Was immer mit Hera los ist – mir scheint, ihr beiden müsst zusammenarbeiten.«
Rachel lächelte, als ob das eine gute Nachricht sei, aber Pipers Herz wurde noch viel schwerer. Sie hatte gedacht, bei diesem Einsatz – wie immer der aussehen mochte – würde es um namenlose Leute gehen. Aber jetzt sagte Rachel ihr in etwa: Gute Nachrichten! Nicht nur wird dein Dad von einem riesigen Kannibalen als Geisel festgehalten, du wirst außerdem den Jungen verraten, den du gernhast. Ist das nicht große Klasse?
»He«, sagte Rachel. »Du brauchst nicht zu weinen. Du wirst das schon in den Griff kriegen.«
Piper wischte sich die Augen und kämpfte um ihre Selbstkontrolle. Das hier sah ihr gar nicht ähnlich. Sie galt doch als die Starke – eine beinharte Autodiebin, die Geißel der Privatschulen von L. A. Und hier lag sie nun und weinte wie ein Baby. »Woher weißt du denn, was mir bevorsteht?«
Rachel zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, es ist eine harte Entscheidung und es sieht nicht toll aus. Wie gesagt, ich habe eben manchmal so eine Ahnung. Und heute beim Lagerfeuer wirst du anerkannt werden. Da bin ich mir fast sicher. Wenn du weißt, wer dein göttlicher Elternteil ist, siehst du die Lage vielleicht klarer.«
Klarer, dachte Piper. Nicht unbedingt besser.
Sie setzte sich im Bett auf. Ihre Stirn schmerzte, als ob jemand einen Nagel zwischen ihre Augen geschlagen hätte. Wir können deine Mutter nicht zurückholen, hatte ihr Dad ihr gesagt. Aber offenbar würde ihre Mom sie an diesem Abend vielleicht anerkennen. Zum ersten Mal war Piper nicht sicher, ob sie das wirklich wollte.
»Ich hoffe, es ist Athene.« Sie schaute auf, voller Angst, dass Rachel sich über sie lustig machen könnte, aber das Orakel lächelte nur.
»Piper, das wundert mich nicht. Ganz ehrlich, ich glaube, Annabeth hofft das auch. Ihr habt ziemliche Ähnlichkeit miteinander.«
Bei diesem Vergleich fühlte Piper sich nur noch schuldiger. »Noch so eine Ahnung? Du weißt doch gar nichts über mich.«
»Du würdest staunen.«
»Das sagst du nur, weil du ein Orakel bist, oder? Du musst so geheimnisvoll klingen.«
Rachel lachte. »Verrat meine Geheimnisse nicht, Piper. Und mach dir keine Sorgen. Alles kommt in Ordnung. Nur vielleicht nicht so, wie du das planst.«
»Das ist aber nicht gerade ein Trost.«
Irgendwo in der Ferne wurde in ein Muschelhorn geblasen. Argus knurrte und öffnete die Tür.
»Abendessen?«, vermutete Piper.
»Das hast du verschlafen«, sagte Rachel. »Zeit fürs Lagerfeuer. Dann wollen wir doch mal in Erfahrung bringen, wer du bist.«
X
Piper
Die Sache mit dem Lagerfeuer machte Piper echt fertig. Sie musste an das riesige Feuer in ihren Träumen und an ihren an den Pfahl gebundenen Vater denken.
Was sie stattdessen erwartete, war fast ebenso beängstigend: ein Rundgesang. Die Treppen des Amphitheaters waren in einen Hang gehauen und führten zu einer mit Steinen eingefassten Feuergrube. In den Reihen saßen fünfzig oder sechzig Kinder, sie hatten sich unter allerlei Bannern zu Gruppen versammelt.
Piper entdeckte Jason in der ersten Reihe, neben Annabeth. Leo war auch in der Nähe, er saß mit einigen kräftig aussehenden Campinsassen unter einem stahlgrauen Banner, das einen Hammer zeigte. Vor dem Feuer stand ein halbes Dutzend Campbewohner mit Gitarren und seltsamen altmodischen Harfen – Leiern? – und tanzte herum, wobei sie ein Lied über Rüstungen sangen, darüber, wie ihre Oma sich für den Krieg ankleidete. Alle stimmten ein, machten Gesten für die einzelnen Rüstungsteile und rissen Witze. Es war vermutlich das Seltsamste, was Piper je gesehen hatte – so ein Lagerfeuerlied, das bei helllichtem Tag nur peinlich gewesen wäre, aber hier im Dunkeln, wenn alle mitmachten, war es irgendwie ausgeflippt und witzig. Als der Enthusiasmus der Sänger wuchs, wurden auch die Flammen höher und wechselten von rot und orange zu golden.
Endlich endete das Lied mit wildem Applaus. Ein Typ auf einem Pferd kam angetrottet. Jedenfalls nahm Piper im flackernden Licht an, dass es ein Typ auf einem Pferd war. Dann ging ihr auf, dass es sich um einen Zentauren handelte. Seine untere Hälfte war ein weißer Hengst, seine obere ein Mann mittleren Alters mit Locken und einem gepflegten Bart. Er schwenkte einen mit gerösteten Marshmallows bestückten Speer. »Sehr schön! Und ein besonderer Willkommensgruß an unsere Neuankömmlinge. Ich bin Chiron, der Unterrichtskoordinator hier im Camp, und es freut mich, dass ihr alle lebendig und im Vollbesitz der meisten Körperteile hier eingetroffen seid. Ich verspreche, wir kommen gleich zu den Marshmallows, aber zuerst …«
»Wie wäre es mit der Eroberung der Flagge?«, schrie jemand. Einige Camper in Rüstung, die unter einem roten Banner mit einem Eberkopf saßen, brüllten los.
»Ja«, sagte der Zentaur. »Ich weiß, die Ares-Hütte kann es gar nicht erwarten, zu unseren üblichen Spielen in den Wald zurückzukehren.«
»Und Leute umzubringen!«, brüllte einer von ihnen.
»Jedoch«, sagte Chiron, »solange der Drache nicht unter Kontrolle gebracht worden ist, ist das unmöglich. Hütte 9, irgendetwas Neues?«
Er wandte sich an Leos Gruppe. Leo zwinkerte Piper zu und schoss mit einer Fingerpistole auf sie. Das Mädchen neben ihm trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Sie trug eine Armeejacke, ähnlich der von Leo, und hatte sich ein rotes Halstuch um die Haare gebunden. »Wir arbeiten daran.«
Noch mehr Gejohle.
»Wie denn, Nyssa?«, fragte jemand aus der Ares-Hütte.
»Sehr hart«, sagte das Mädchen.
Nyssa setzte sich, während weiter gejohlt und protestiert wurde und das Feuer chaotisch flackerte. Chiron stampfte mit dem Huf auf die Steine, die die Feuerstelle einfassten, und die Campinsassen verstummten.
»Wir brauchen Geduld«, sagte Chiron. »In der Zwischenzeit haben wir dringlichere Dinge zu besprechen.«
»Geht es um Percy?«, fragte jemand. Das Feuer erstarb fast, aber Piper brauchte die Stimmungsflammen nicht, um die Besorgnis der anderen zu spüren.
Chiron winkte Annabeth. Sie holte tief Atem und stand auf.
»Ich habe Percy nicht gefunden«, teilte sie mit. Ihre Stimme zitterte ein wenig, als sie seinen Namen nannte. »Er war nicht am Grand Canyon, wie ich geglaubt hatte. Aber wir geben nicht auf. Wir haben überall Teams. Grover, Tyson, Nico, die Jägerinnen der Artemis – alle suchen ihn. Wir werden ihn finden. Chiron meint etwas anderes. Einen neuen Auftrag.«
»Es geht um die Große Weissagung, oder?«, warf ein Mädchen ein.
Alle fuhren herum. Die Stimme kam aus einer Gruppe ganz hinten, die unter einem rosa Banner mit einer Taube saß. Die meisten von ihnen hatten miteinander geplaudert und nicht besonders gut aufgepasst, bis nun ihre Anführerin aufgestanden war: Drew.
Alle sahen überrascht aus. Offenbar meldete Drew sich nicht oft zu Wort. »Drew?«, fragte Annabeth. »Wie meinst du das?«
»Ach, hör doch auf.« Drew breitete die Hände aus, als sei die Wahrheit offenkundig. »Der Olymp ist verschlossen. Percy ist verschwunden. Hera schickt dir eine Vision und du kommst mit gleich drei neuen Halbgöttern an einem Tag zurück. Ich meine, hier stimmt doch was nicht. Die Große Weissagung wird wahr, oder?«