Piper wollte schon rufen, dass Jason fliegen konnte. Aber sie überlegte es sich anders. Das musste Jason ihnen selbst erzählen, und er rückte nicht damit heraus. Vielleicht fand er, er hatte den anderen für einen Abend genug Angst eingejagt.
»Der fliegende Streitwagen ist zerbrochen«, sagte Nyssa jetzt. »Und die Pegasi brauchen wir für die Suche nach Percy. Aber vielleicht kommt die Hephaistos-Hütte auf eine andere Idee, wie sie helfen kann. Solange Jake nicht einsatzfähig ist, bin ich die Hüttenälteste. Ich könnte mich für den Auftrag melden.«
Sie klang nicht gerade begeistert.
Dann stand Leo auf. Er war so still gewesen, dass Piper seine Anwesenheit fast vergessen hatte, und das war so gar nicht typisch für Leo.
»Ich bin gemeint«, sagte er.
Seine Hüttengenossen starrten ihn an. Mehrere von ihnen versuchten, ihn wieder auf den Sitz zu zerren, aber Leo wehrte sich.
»Nein, ich bin gemeint. Das weiß ich. Ich habe eine Idee, wie wir das Transportproblem lösen können. Lasst es mich versuchen. Ich kann das schaffen.«
Jason musterte ihn für einen Moment. Piper war sicher, dass er ablehnen würde. Dann lächelte er. »Wir haben das hier zusammen angefangen, Leo. Scheint nur logisch, wenn du mitkommst. Besorg uns eine Mitfluggelegenheit und du bist dabei.«
»Jawoll!« Leo hob die Faust.
»Das wird aber gefährlich«, sagte Nyssa warnend. »Entbehrungen, Monster, unvorstellbares Leid. Wahrscheinlich kommt keiner von euch lebend zurück.«
»Oh.« Plötzlich sah Leo nicht mehr so begeistert aus. Dann fiel ihm auf, dass alle ihn anstarrten. »Ich meine … cool. Leid? Ich stehe auf Leid. Also los.«
Annabeth nickte. »Dann, Jason, brauchst du nur noch das dritte Mitglied für den Auftrag auszusuchen. Die Taube …«
»Aber natürlich!« Drew war aufgesprungen und strahlte Jason an. »Die Taube ist Aphrodite. Das wissen doch alle. Ich stehe dir vollkommen zur Verfügung.«
Piper ballte die Fäuste. Sie trat vor. »Nein.«
Drew verdrehte die Augen. »Also bitte, Müllmädel. Verzieh dich.«
»Ich hatte die Vision von Hera, nicht du. Ich muss das tun.«
»Jeder Idiot kann eine Vision haben«, sagte Drew. »Du warst nur gerade zur richtigen Zeit am richtigen Ort.« Sie wandte sich an Jason. »Hör mal, kämpfen ist ja gut und schön. Und Leute, die Maschinen bauen …« Sie sah Leo voller Verachtung an. »Na ja, ich nehme an, irgendwer muss sich schließlich die Hände schmutzig machen. Aber du brauchst auch Charme, wenn du gewinnen willst. Ich kann sehr überzeugend sein. Ich wäre dir bestimmt eine große Hilfe.«
Die anderen murmelten, dass Drew wirklich sehr überzeugend sei. Piper konnte sehen, wie Drew sie auf ihre Seite brachte. Sogar Chiron kratzte sich den Bart, als ob es ihm plötzlich sinnvoll erschiene, wenn Drew bei dem Einsatz dabei wäre.
»Na ja …«, sagte Annabeth. »So, wie die Prophezeiung formuliert war …«
»Nein!« Pipers Stimme klang fremd in ihren Ohren – entschiedener, klangvoller. »Ich bin gemeint.«
Und dann passierte etwas überaus Seltsames. Alle nickten und murmelten, dass Pipers Standpunkt auch eine Berechtigung habe. Drew schaute sich ungläubig um. Sogar einige ihrer Hüttengenossen nickten.
»Hört doch auf!«, fauchte Drew in die Runde. »Was kann Piper schon?«
Piper wollte antworten, aber ihr Selbstvertrauen schwand schon wieder. Was hatte sie denn anzubieten? Sie war weder Kämpferin noch Strategin noch Macherin. Das Einzige, was sie konnte, war, sich Ärger einzuhandeln und ab und zu andere dazu zu bringen, Dummheiten zu begehen.
Und eine Lügnerin war sie noch dazu. Sie wollte bei diesem Einsatz aus Gründen dabei sein, die nichts mit Jason zu tun hatten – und wenn sie mitginge, würde sie am Ende alle hier verraten. Sie hörte die Stimme aus ihrem Traum: Höre auf mich und ihr werdet beide leben. Wie sollte sie eine solche Wahl treffen – ihrem Vater zu helfen oder Jason?
»Na also«, sagte Drew selbstzufrieden. »Damit dürfte der Fall geklärt sein.«
Plötzlich schnappten alle nach Luft. Alles starrte Piper an, als ob sie soeben explodiert wäre. Sie fragte sich, was sie falsch gemacht hatte. Dann merkte sie, dass sie ein rötliches Glühen umgab.
»Was ist das?«, fragte sie.
Sie schaute nach oben, aber da war kein flammendes Symbol wie das, das über Leo aufgetaucht war. Dann schaute sie nach unten und stieß ein Quieken aus.
Ihre Kleidung … was um alles in der Welt hatte sie da an? Sie hasste Kleider. Sie besaß gar keins. Aber jetzt trug sie eine elegante weiße ärmellose Robe, die ihr bis zu den Knöcheln reichte, mit einem so tiefen V-Ausschnitt, dass es einfach nur peinlich war. Schmale Goldreifen umfassten ihre Oberarme. Ein kompliziert geflochtenes Halsband aus Bernstein, Korallen und goldenen Blumen funkelte auf ihrer Brust, und ihre Haare …
»Oh Gott«, sagte sie. »Was ist passiert?«
Eine verblüffte Annabeth zeigte auf Pipers Dolch, der jetzt eingeölt war und funkelte und an einer goldenen Schnur an ihrer Seite hing. Piper wollte den Dolch eigentlich nicht ziehen. Sie fürchtete sich davor, was sie dann sehen würde. Aber ihre Neugier trug den Sieg davon. Sie zog Katoptris aus der Scheide und starrte ihr Spiegelbild in der polierten Metallschneide an. Ihr Haare waren perfekt: üppig und lang und schokoladenbraun, auf der einen Seite mit goldenen Bändern durchflochten, so dass sie ihr über die Schulter fielen. Sie war sogar geschminkt, viel besser, als Piper das jemals selbst fertiggebracht hätte – ihre Lippen leuchteten kirschrot und die unterschiedlichen Farben ihrer Augen kamen richtig zur Geltung.
Sie war … sie war …
»Schön!«, rief Jason. »Piper, du bist … du bist einfach umwerfend.«
Unter anderen Umständen wäre das der glücklichste Moment in ihrem Leben gewesen. Aber jetzt starrten alle sie an wie eine Missgeburt. Drews Gesicht zeigte nichts als Entsetzen und Ekel. »Nein!«, schrie sie. »Unmöglich!«
»Das bin ich nicht«, protestierte Piper. »Ich – ich verstehe das nicht.«
Chiron der Zentaur kreuzte seine Vorderbeine und verneigte sich vor ihr, und alle anderen Campinsassen folgten seinem Beispiel.
»Sei willkommen, Piper McLean«, verkündete Chiron mit so ernster Stimme, als spräche er auf ihrer Beerdigung. »Tochter der Aphrodite, der Herrin der Tauben, der Göttin der Liebe.«
XI
Leo
Leo blieb nicht mehr lange, nachdem Piper schön geworden war. Klar, es war einfach umwerfend und überhaupt – Sie trägt Make-up! Ein Wunder! –, aber Leo hatte andere Probleme zu lösen. Er schlich sich aus dem Amphitheater und rannte in die Dunkelheit, wobei er sich fragte, worauf er sich da nur eingelassen hatte.
Er war vor einer Bande von stärkeren, mutigeren Halbgöttern aufgestanden und hatte sich freiwillig – freiwillig! – für einen Auftrag gemeldet, den er wohl kaum überleben würde.
Er hatte nicht erwähnt, dass er Tía Callida gesehen hatte, seine Babysitterin von damals, aber als er von Jasons Vision gehört hatte – die alte Frau in schwarzem Kleid und Tuch –, hatte Leo gewusst, dass es dieselbe Frau war. Tía Callida war Hera. Seine gemeine Babysitterin war die Königin der Götter. So was konnte einem doch wirklich das Gehirn schmelzen lassen.
Er trottete auf den Wald zu und versuchte, nicht an seine Kindheit zu denken – an all das Chaos, das zum Tod seiner Mutter geführt hatte. Aber er konnte einfach nicht damit aufhören.
Er war etwa zwei gewesen, als Tía Callida zum ersten Mal versucht hatte, ihn umzubringen. Sie passte auf ihn auf, während seine Mutter in der Werkstatt war. Natürlich war sie keine echte Tante – nur eine der alten Frauen aus der Nachbarschaft, die ab und zu auf die Kinder aufpasste. Sie roch wie ein in Honig gebackener Schinken und trug immer ein schwarzes Witwenkleid und ein schwarzes Kopftuch.
»Legen wir uns doch für ein Nickerchen hin!«, sagte sie. »Wollen doch mal sehen, ob du mein kleiner tapferer Held bist, was?«