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Leo war müde. Sie wickelte ihn in seine Decken, in einen warmen Hügel aus roten und gelben – Kissen? Das Bett war wie ein kleines Fach in der Wand, es war aus rußgeschwärzten Backsteinen und hatte über seinem Kopf einen Metallspalt und weit oben ein viereckiges Loch, durch das er die Sterne sehen konnte. Er wusste noch, dass er gemütlich dort gelegen und nach Funken gegriffen hatte wie nach Leuchtkäfern. Er hatte sich vorgestellt, dass er auf einem Schiff war und nach dem Himmel navigierte. Irgendwo in der Nähe saß Tía Callida in ihrem Schaukelstuhl – knarz, knarz, knarz – und sang ein Schlaflied. Schon mit zwei kannte Leo den Unterschied zwischen Englisch und Spanisch und er wusste noch, dass er sich gewundert hatte, denn Tía Callida sang in einer Sprache, die weder das Eine, noch das Andere war.

Alles war wunderbar, bis seine Mutter nach Hause kam. Sie schrie auf, stürzte zu ihm, riss ihn an sich und brüllte Tía Callida an: »Wie konntest du?« Aber die alte Frau war verschwunden.

Leo erinnerte sich, wie er über die Schulter seiner Mutter die Flammen angeschaut hatte, die seine Decken umzüngelten. Erst Jahre später war ihm aufgegangen, dass er in einem lodernden Kamin geschlafen hatte.

Das Seltsamste war, dass Tía Callida nicht verhaftet oder wenigstens aus ihrem Haus verbannt worden war. Sie war in den nächsten Jahren noch mehrere Male aufgetaucht. Einmal, als Leo drei war, ließ sie ihn mit Messern spielen. »Du musst früh lernen, mit Klingen umzugehen, wenn du einmal mein Held werden willst«, erklärte sie. Leo hatte es geschafft, sich nicht umzubringen, aber er hatte das Gefühl, dass es Tía Callida auch nicht besonders viel ausgemacht hätte.

Als Leo vier war, suchte die Tía für ihn auf einer nahegelegenen Kuhweide eine Klapperschlange. Sie gab ihm einen Stock und forderte ihn auf, das Tier damit anzustupsen. »Wo ist denn dein Mut, kleiner Held? Zeig mir, dass es richtig von den Moiren war, dich auszusuchen.« Leo starrte in die Bernsteinaugen und hörte das trockene Rasseln der Klapper. Er brachte es nicht über sich, die Schlange mit dem Stock anzustoßen. Es kam ihm einfach nicht fair vor. Der Schlange schien es mit dem kleinen Jungen ähnlich zu gehen. Leo hätte schwören können, dass sie Tía Callida ansah, als wollte sie sagen: Hast du denn völlig den Verstand verloren, Alte? Dann verschwand sie im hohen Gras.

Als Tía Callida ihn das letzte Mal gehütet hatte, war Leo fünf. Sie brachte ihm eine Schachtel Buntstifte und einen Block Papier mit. Sie saßen zusammen am Picknicktisch hinter ihrem Wohnblock, unter einem alten Pecanbaum. Während Tía Callida ihre seltsamen Lieder sang, zeichnete Leo ein Bild des Bootes, das er in den Flammen gesehen hatte, mit bunten Segeln und Reihen von Rudern, einem geschwungenen Bug und einer beeindruckenden Galionsfigur. Als er fast fertig war und seinen Namen unter das Bild setzen wollte, wie er das im Kindergarten gelernt hatte, entriss ein Windstoß ihm das Bild. Es wurde in die Luft gewirbelt und war verschwunden.

Leo wollte weinen. Er hatte so viel Zeit in das Bild gesteckt – aber Tía Callida schnalzte nur mit der Zunge.

»Die Zeit ist noch nicht gekommen, kleiner Held. Eines Tages wirst du deine Aufgabe erhalten. Du wirst deine Bestimmung finden und deine Reise wird endlich einen Sinn ergeben. Aber zuerst musst du dich großem Kummer stellen. Das tut mir leid, aber nur so können Helden geformt werden. Und jetzt mach mir ein Feuer, um diese alten Knochen zu wärmen, ja?«

Einige Minuten später kam Leos Mom aus dem Haus und kreischte vor Entsetzen. Tía Callida war verschwunden, aber Leo saß mitten in einem rauchenden Feuer. Der Zeichenblock war zu Asche zerfallen, die Buntstifte waren zu einer blubbernden Pfütze aus knallbuntem Sirup geworden und Leos Hände loderten und brannten sich langsam durch den Picknicktisch. Noch Jahre später fragten sich Leute aus dem Wohnblock, wie jemand es geschafft hatte, den Handabdruck eines fünf Jahre alten Kindes drei Zentimeter tief in das massive Holz einzubrennen.

Jetzt war Leo sich sicher, dass Tía Callida, seine psychotische Babysitterin, die ganze Zeit Hera gewesen war. Das machte sie zu – seiner göttlichen Großmutter? Seine Familienverhältnisse waren noch chaotischer, als ihm klar gewesen war. Er hätte gern gewusst, ob seine Mutter die Wahrheit gekannt hatte. Leo erinnerte sich daran, dass seine Mom ihn nach diesem letzten Besuch beiseite genommen und lange mit ihm gesprochen hatte, aber er hatte längst nicht alles verstanden.

»Sie kommt nicht wieder.« Seine Mom hatte ein schönes Gesicht mit lieben Augen und dunkle Locken gehabt, aber wegen ihrer harten Arbeit hatte sie älter ausgesehen. Sie hatte tiefe Falten um ihre Augen und schwielige Hände. In ihrer Familie war sie die Erste, die das College besucht hatte. Sie hatte ihr Examen in Maschinenbau abgelegt und konnte alles entwerfen, alles reparieren, alles bauen.

Aber niemand gab ihr einen Job. Keine Firma wollte sie ernst nehmen, deshalb suchte sie Zuflucht in ihrer Werkstatt und versuchte, genug zu verdienen, um sich und Leo zu ernähren. Sie roch immer nach Maschinenöl, und wenn sie mit Leo sprach, wechselte sie ständig zwischen Spanisch und Englisch – wie zwischen zwei Arbeitsgeräten, die sich gegenseitig ergänzen. Leo brauchte Jahre, um zu begreifen, dass nicht alle so redeten. Sie hatte ihm sogar das Morsen beigebracht, als eine Art Spiel, deshalb konnten sie sich gegenseitig Mitteilungen schicken, wenn sie in unterschiedlichen Zimmern waren. Ich liebe dich. Alles klar bei dir? Solche einfachen Dinge.

»Mir ist egal, was Callida sagt«, sagte seine Mom zu ihm, »das mit der Bestimmung und den Moiren. Du bist zu jung für so was. Du bist noch immer mein Baby.«

Sie nahm seine Hände und suchte nach Brandwunden, aber natürlich gab es keine. »Leo, hör mir gut zu. Feuer ist ein Werkzeug, wie alles andere, aber es ist gefährlicher als die meisten anderen. Du kennst deine Grenzen nicht. Bitte, versprich mir – kein Feuer mehr, bis du deinem Vater gegenüberstehst. Eines Tages, Mijo, wirst du ihn treffen. Er wird alles erklären.«

Leo hatte das sein Leben lang gehört. Eines Tages würde er seinem Dad gegenüberstehen. Seine Mom hatte keinerlei Fragen zu ihm beantworten wollen. Leo war ihm nie begegnet, hatte keine Fotos von ihm gesehen, aber so wie seine Mom über ihn sprach, hätte er auch nur kurz Milch holen sein können. Leo versuchte trotzdem, ihr zu glauben. Eines Tages würde alles einen Sinn ergeben.

Die nächsten zwei Jahre waren sie glücklich gewesen. Leo hatte Tía Callida fast vergessen. Er träumte noch immer von dem fliegenden Boot, aber all die anderen seltsamen Dinge kamen ihm ebenfalls wie ein Traum vor.

Als er acht war, ging alles in Stücke. Inzwischen verbrachte er jede freie Stunde bei seiner Mom in der Werkstatt. Er konnte mit den Maschinen umgehen, Messungen vornehmen und besser rechnen als die meisten Erwachsenen. Er hatte gelernt, dreidimensional zu denken und mechanische Probleme im Kopf zu lösen, so wie seine Mom das machte.

Eines Abends blieben sie sehr lange dort, weil seine Mom an einem neuen Bauteil für einen Bohrer arbeitete, auf den sie ein Patent zu bekommen hoffte. Wenn sie den Prototypen verkaufen könnte, würde das ihr Leben ändern. Dann hätte sie endlich ihren Durchbruch.

Leo reichte ihr Werkzeuge an und erzählte ihr blöde Witze, um sie bei Laune zu halten. Er war glücklich, wenn er sie zum Lachen bringen konnte. Sie lächelte dann immer und sagte: »Dein Vater wäre stolz auf dich, Mijo. Du wirst ihm bald begegnen, da bin ich mir sicher.«

Moms Arbeitsplatz war ganz hinten in der Werkstatt. Es war eine unheimliche Nacht, denn außer ihnen war niemand dort. Jedes Geräusch hallte in dem dunklen Lagerhaus wider, aber Leo war das egal, wenn er nur bei seiner Mom sein konnte. Wenn er in der Werkstatt herumwanderte, dann blieb er immer durch Morsezeichen mit ihr in Verbindung. Wenn sie zum Aufbruch bereit waren, mussten sie durch die ganze Lagerhalle gehen, durch den Pausenraum und auf den Parkplatz hinaus, und sie mussten alle Türen hinter sich abschließen.