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Als sie an diesem Abend fertig waren, gingen sie gerade am Pausenraum vorbei, als seine Mom merkte, dass sie ihre Schlüssel vergessen hatte. »Komisch«, sie runzelte die Stirn. »Ich bin sicher, dass ich sie eben noch hatte. Warte hier, Mijo. Ich bin gleich wieder da.«

Sie war erst für einige Herzschläge verschwunden, als die Tür des Pausenraums zufiel. Dann verriegelte sich auch die Ausgangstür.

»Mom?« Leos Herz hämmerte. Etwas Schweres ging in der Werkstatt zu Boden. Er rannte zur Tür, aber sosehr er auch zerrte oder trat, sie ging nicht auf. »Mom!« Verzweifelt tippte er eine Frage gegen die Wand: »Alles in Ordnung bei dir?«

»Sie kann dich nicht hören«, sagte eine Stimme.

Leo fuhr herum und sah eine fremde Frau vor sich. Zuerst hielt er sie für Tía Callida. Sie trug schwarze Gewänder und einen Schleier vor dem Gesicht.

»Tía?«, fragte er.

Die Frau kicherte, ein leises Geräusch, als schliefe sie halb. »Ich bin nicht deine Hüterin. Das ist nur die Familienähnlichkeit.«

»Was … was willst du? Wo ist meine Mom?«

»Ah … loyal deiner Mutter gegenüber. Rührend. Aber ich habe ebenfalls Kinder … und soviel ich weiß, wirst du eines Tages gegen sie kämpfen. Wenn sie versuchen, mich zu erwecken, wirst du sie daran hindern wollen. Das kann ich nicht zulassen.«

»Ich kenne Sie nicht. Ich will mit niemandem kämpfen.«

Sie murmelte wie eine Schlafwandlerin in Trance: »Eine weise Entscheidung.«

Fröstelnd erkannte Leo, dass die Frau wirklich halb im Schlaf war. Hinter ihrem Schleier waren ihre Augen geschlossen. Aber was noch seltsamer war: Ihre Kleider waren nicht aus Stoff. Sie waren aus Erde – trockener schwarzer Erde, die um sie herumwirbelte und sich immer wieder anders formierte. Ihr bleiches schlafendes Gesicht war hinter dem Staubvorhang kaum zu sehen, und er hatte das entsetzliche Gefühl, dass sie sich soeben aus dem Grab erhoben hatte. Wenn die Frau schlief, fand Leo, solle sie das bloß weiter machen. Er wusste, in wachem Zustand würde sie noch beängstigender sein.

»Ich kann dich noch nicht vernichten«, murmelte die Frau. »Die Moiren würden das nicht erlauben. Aber deine Mutter beschützen sie nicht und sie können mich nicht daran hindern, deinen Mut zu brechen. Denk an diese Nacht zurück, kleiner Held, wenn sie dich auffordern, dich mir zu widersetzen.«

»Lass meine Mutter in Ruhe!« Angst stieg in seiner Kehle auf, als die Frau weiterschlurfte. Sie bewegte sich eher wie eine Lawine als wie ein Mensch, eine dunkle Erdwand kam auf ihn zu.

»Wie willst du mich aufhalten?«, flüsterte sie.

Sie ging einfach durch einen Tisch hindurch, und die Partikel ihres Körpers fügten sich auf der anderen Seite wieder zusammen.

Sie ragte über Leo auf und er wusste, dass sie auch durch ihn durchgehen würde. Er war das Einzige, was noch zwischen ihr und seiner Mutter stand.

Seine Hände fingen Feuer.

Ein schläfriges Lächeln breitete sich im Gesicht der Frau als, als hätte sie bereits gewonnen. Vor Leos Augen wurde alles rot. Flammen loderten über die Frau aus Erde, die Wände, die verschlossenen Türen und Leo verlor das Bewusstsein.

Als er wieder zu sich kam, lag er in einem Krankenwagen.

Die Krankenschwester versuchte, freundlich zu sein. Sie sagte, das Lagerhaus sei abgebrannt. Seine Mutter sei nicht mehr lebend herausgekommen. Die Krankenschwester beteuerte, wie leid ihr das tue, aber Leo fühlte sich hohl. Er hatte die Kontrolle verloren, wie seine Mutter befürchtet hatte. Er war schuld an ihrem Tod.

Dann befragte ihn die Polizei, und die war weniger freundlich. Das Feuer war vor dem Pausenraum ausgebrochen, genau wo Leo gestanden hatte, sagten sie. Er hatte wie durch ein Wunder überlebt, aber welches Kind schloss seine Mutter in ihrer Werkstatt ein und legte dann ein Feuer?

Später erzählten die Nachbarn im Wohnblock der Polizei, was er doch für ein seltsamer Junge sei. Sie redeten über die verbrannten Handabdrücke im Picknicktisch. Sie hätten immer schon gewusst, dass mit dem Sohn von Esperanza Valdez etwas nicht stimmte.

Seine Verwandtschaft wollte ihn nicht. Seine Tante Rosa nannte ihn einen Diablo und brüllte die Leute vom Jugendamt an, sie sollten ihn mitnehmen. Also kam Leo in sein erstes Heim. Einige Tage darauf lief er weg. In einigen Heimen hielt er länger durch als in anderen. Er riss Witze, fand Freunde, gab vor, dass ihm nichts etwas ausmache, aber immer brannte er früher oder später durch. Nur so tat es weniger weh – durch das Gefühl, sich zu bewegen, immer weiter und weiter von der Asche der Werkstatt fortzugelangen.

Er hatte sich geschworen, nie wieder mit Feuer zu spielen. Er hatte seit langer Zeit nicht mehr an Tía Callida oder die Frau in den irdenen Gewändern gedacht.

Er hatte den Wald fast erreicht, als er glaubte, Tía Callidas Stimme zu hören. Es war nicht deine Schuld, kleiner Held. Unsere Feindin erwacht. Es ist Zeit, nicht mehr wegzulaufen.

»Hera«, stammelte Leo. »Du bist doch gar nicht hier, oder? Du sitzt irgendwo in einem Käfig.«

Es kam keine Antwort.

Aber Leo hatte etwas begriffen. Hera hatte ihn sein Leben lang beobachtet. Irgendwie hatte sie gewusst, dass sie ihn eines Tages brauchen würde. Vielleicht konnten diese Moiren, die sie erwähnt hatte, die Zukunft voraussagen. Leo war sich nicht sicher. Aber er wusste, dass er für diesen Einsatz bestimmt war. Jasons Weissagung hatte sie vor der Erde gewarnt, und Leo wusste, dass das etwas mit der schlafenden Frau in der Werkstatt zu tun hatte, mit ihren Gewändern aus wirbelndem Dreck.

Du wirst deine Bestimmung finden, hatte Tía Callida versprochen. Und deine Reise wird endlich einen Sinn ergeben.

Leo würde vielleicht herausfinden, was das fliegende Boot in seinen Träumen bedeutete. Er würde seinem Vater begegnen oder sogar den Tod seiner Mutter rächen können.

Aber alles der Reihe nach. Er hatte Jason eine Mitfluggelegenheit versprochen.

Nicht das Boot aus seinen Träumen – noch nicht. Es blieb keine Zeit, um etwas dermaßen Kompliziertes zu bauen. Er brauchte eine schnellere Lösung. Er brauchte einen Drachen.

Am Waldrand zögerte er und schaute in die absolute Schwärze. Eulen schrien und irgendetwas in der Ferne zischte wie ein Schlangenchor.

Leo dachte daran, was Will Solace ihm gesagt hatte: Niemand sollte allein in den Wald gehen, und schon gar nicht unbewaffnet. Leo hatte nichts – kein Schwert, keine Taschenlampe, keine Hilfe.

Er schaute sich zu den Lichtern der Hütten um. Er könnte umkehren und allen sagen, es sei ein Witz gewesen. Irrsinn. Nyssa könnte an seiner Stelle mit Jason losziehen. Er könnte im Camp bleiben und lernen, ein Mitglied der Hephaistos-Hütte zu sein, aber er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis er aussähe wie seine Hüttengenossen – traurig, hoffnungslos, von seinem Pech überzeugt.

Sie können mich nicht daran hindern, deinen Mut zu brechen, hatte die schlafende Frau gesagt. Denk an diese Nacht zurück, kleiner Held, wenn sie dich auffordern, dich mir zu widersetzen.

»Glaub mir, gute Frau«, murmelte Leo. »Ich denke daran. Und wer immer du sein magst, ich werde dir Leo-mäßig eine verpassen.«

Er holte tief Luft und lief in den Wald.

XII

Leo

Leo war noch nie an einem Ort wie diesem Wald gewesen. Er war in einer Wohnblocksiedlung im Norden von Houston aufgewachsen. Das Wildeste, was er je gesehen hatte, bis er zur Wüstenschule geschickt worden war, waren die Klapperschlange auf der Wiese und Tante Rosa im Nachthemd gewesen.

Und die Schule hatte auch nicht so richtig in der Wildnis gelegen. Keine Bäume mit knorrigen Wurzeln, über die man stolpern konnte. Keine Zweige, die unheimliche Schatten warfen, oder Eulen, die aus großen nachdenklichen Augen auf ihn herabblickten. Das hier war die Zone des Zwielichts.

Er stolperte weiter, bis er sicher war, dass er von den Hütten aus unmöglich mehr gesehen werden konnte. Dann beschwor er ein Feuer herauf. Flammen tanzten über seine Fingerspitzen und spendeten ihm Licht. Es war Jahre her, dass er versucht hatte, ein Feuer in Gang zu halten, damals am Picknicktisch. Seit dem Tod seiner Mutter hatte er sich zu sehr gefürchtet, um neue Versuche zu unternehmen. Sogar bei diesem kleinen Feuer fühlte er sich schuldig.