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»Alles klar, ihr Zuckerpüppchen«, verkündete Trainer Hedge. »Ihr werdet jetzt den Grand Canyon sehen. Versucht, ihn nicht kaputt zu machen. Die Plattform kann das Gewicht von siebzig Jumbojets tragen, ihr Fliegengewichte seid darauf also wohl sicher. Wenn möglich, versucht, euch nicht gegenseitig über die Kante zu schubsen, das würde mir ziemlich viel Papierkram bescheren.«

Der Trainer öffnete die Türen und alle liefen nach draußen. Vor ihnen erstreckte sich der Grand Canyon, live und höchstpersönlich. Über den Abgrund ragte ein hufeisenförmiger Gehsteig aus Glas, der voll und ganz durchsichtig war.

»Mann«, sagte Leo. »Einfach krass.«

Jason musste zustimmen. Trotz seines Gedächtnisverlusts und des Gefühls, dass er hier nichts zu suchen hatte, war er beeindruckt.

Der Canyon war größer und weiter, als man irgendeinem Bild entnehmen könnte. Sie waren so hoch oben, dass unter ihren Füßen Vögel kreisten. Über hundertfünfzig Meter unter ihnen schlängelte sich ein Fluss über den Boden des Canyons. Sturmwolken hatten sich über ihnen zusammengeballt, während sie im Museum gewesen waren, und warfen Schatten, die aussahen wie wütende Gesichter, auf die Felsen. So weit Jason sehen konnte, schnitten rote und graue Schluchten durch die Wüste, als sei irgendein durchgeknallter Gott mit einem Messer Amok gelaufen.

Jason verspürte einen stechenden Schmerz hinter seinen Augen. Ein durchgeknallter Gott … Wie war er auf diesen Gedanken gekommen? Er hatte das Gefühl, sich etwas Wichtigem zu nähern – etwas, über das er Bescheid wissen müsste. Außerdem hatte er das unverkennbare Gefühl, in Gefahr zu schweben.

»Alles in Ordnung?«, fragte Leo. »Du kotzt hier nicht über das Geländer, oder? Dann hätte ich doch meinen Fotoapparat mitbringen sollen.«

Jason klammerte sich an das Geländer. Er zitterte und schwitzte, aber das hatte nichts mit Höhenangst zu tun. Er kniff die Augen zusammen und der Schmerz dahinter ließ nach.

»Mir geht’s gut«, brachte er heraus. »Einfach nur Kopfschmerzen.«

Über ihnen grollte Donner. Ein kalter Wind hätte ihn fast umgeworfen.

»Das kann doch nicht normal sein.« Leo schaute aus zusammengekniffenen Augen zu den Wolken hoch. »Das Gewitter hängt genau über uns, aber sonst ist überall Ruhe. Komisch, was?«

Jason schaute hoch und sah, dass Leo Recht hatte. Ein dunkler Kreis aus Wolken machte sich über dem Aussichtspunkt breit, während der restliche Himmel in allen Richtungen klar und blau war. Jason hatte ein mieses Gefühl dabei.

»Los, ihr Zuckerpüppchen!«, rief Trainer Hedge. Er schaute stirnrunzelnd zum Gewitter hoch, als ob das auch ihm Sorgen bereitete. »Wir müssen das hier vielleicht abbrechen, also macht euch an die Arbeit. Nicht vergessen, vollständige Sätze.«

Das Gewitter grummelte und Jasons Kopf tat wieder weh. Er wusste nicht, warum, aber er griff in die Tasche seiner Jeans und zog eine Münze heraus – ein rundes Goldstück von der Größe eines halben Dollars, aber dicker und nicht so glatt. Auf der einen Seite war das Bild einer Kriegsaxt eingestanzt, auf der anderen irgendein Typ mit einem Lorbeerkranz. Die Inschrift lautete so ungefähr IVLIVS.

»Meine Fresse, ist das Gold?«, fragte Leo. »Das hast du mir vorenthalten.«

Jason steckte die Münze wieder ein und fragte sich, woher sie wohl kam und warum er das Gefühl hatte, dass er sie bald brauchen würde. »Ach, nicht der Rede wert«, sagte er. »Einfach eine Münze.«

Leo zuckte mit den Schultern. Vielleicht mussten seine Gedanken ebenso in Bewegung bleiben wie seine Hände. »Na los«, sagte er. »Wer sich als Erster traut, über das Geländer zu spucken.«

Sie gaben sich keine große Mühe mit ihren Arbeitsblättern. Zum einen war Jason zu sehr vom Sturm und seinen eigenen verwirrten Gedanken abgelenkt, zum anderen hatte er keine Ahnung, wie er »drei hier zu sehende Sedimentschichten« benennen oder »zwei Beispiele für Erosion« beschreiben sollte.

Leo war auch keine Hilfe. Er war damit beschäftigt, aus Pfeifenreinigern einen Hubschrauber zu bauen.

»Mal testen.« Er ließ den Hubschrauber starten. Jason rechnete damit, dass der sofort abstürzen würde, aber die Pfeifenreinigerrotoren drehten sich wirklich. Der kleine Hubschrauber schaffte den halben Canyon, dann verlor er Hubkraft und schoss in Spiralen ins Leere hinab.

»Wie hast du das denn gemacht?«, fragte Jason.

Leo zuckte mit den Schultern. »Wäre besser geworden, wenn ich ein paar Gummibänder hätte.«

»Jetzt mal im Ernst«, sagte Jason. »Sind wir Freunde?«

»Soweit ich weiß, schon.«

»Ganz sicher? Wann haben wir uns kennengelernt? Worüber haben wir gesprochen?«

»Das war …«, Leo runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht mehr genau. Ich habe ADHD, Mann. Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich mich an Details erinnere.«

»Aber ich kann mich überhaupt nicht an dich erinnern. Ich kann mich an niemanden hier erinnern. Was, wenn …«

»Du Recht hast und alle anderen Unrecht?«, fragte Leo. »Du glaubst, dass du hier heute Morgen einfach so aufgetaucht bist und dass wir alle gefälschte Erinnerungen an dich haben?«

Eine leise Stimme in Jasons Kopf sagte: Genau das glaube ich.

Aber es hörte sich verrückt an. Alle anderen hier schienen seine Anwesenheit für selbstverständlich zu halten. Alle verhielten sich, als gehöre er ganz normal in diese Klasse – außer Trainer Hedge.

»Halt mal«, Jason reichte Leo das Arbeitsblatt. »Ich bin gleich wieder da.«

Ehe Leo protestieren konnte, lief Jason auch schon über den Gehsteig.

Ihre Gruppe war ganz allein hier. Vielleicht war es zu früh für Touristen, oder das seltsame Wetter hatte sie abgeschreckt. Die Jugendlichen hatten sich in Paaren über den Gehsteig verteilt. Die meisten rissen Witze oder quatschten. Einige Jungen warfen Münzen über das Geländer. Etwa fünfzehn Meter weiter versuchte Piper, ihr Arbeitsblatt auszufüllen, aber ihr blöder Partner Dylan grabbelte sie immer wieder an, legte ihr die Hand auf die Schulter und schenkte ihr sein blendend weißes Lächeln. Sie stieß ihn weg und als sie Jason sah, schaute sie ihn mit einem Blick an, der sagte: Erwürg diesen Kerl für mich.

Jason bedeutete ihr, Geduld zu haben. Er ging weiter zu Trainer Hedge, der sich auf seinen Baseballschläger stützte und die Sturmwolken betrachtete.

»Warst du das?«, fragte ihn der Trainer.

Jason trat einen Schritt zurück. »Was denn?« Es klang, als habe der Trainer soeben gefragt, ob Jason das Gewitter heraufbeschworen hätte.

Trainer Hedge starrte ihn wütend an, seine stechenden kleinen Augen funkelten unter dem Mützenschirm. »Komm mir ja nicht mit solchen Spielchen, Kleiner. Was machst du hier und warum ruinierst du mir meinen Job?«

»Sie meinen … Sie kennen mich nicht?«, fragte Jason. »Ich bin keiner Ihrer Schüler?«

Hedge schnaubte. »Seh dich heute zum allerersten Mal.«

Vor Erleichterung hätte Jason fast geweint. Wenigstens wurde er nicht verrückt. Er war wirklich am falschen Ort. »Hören Sie, Sir, ich weiß nicht, wie ich hergekommen bin. Ich bin einfach im Schulbus aufgewacht. Ich weiß nur, dass ich nicht hier sein sollte.«

»Da hast du verdammt Recht.« Hedges raue Stimme senkte sich zu einem Murmeln, als teile er mit Jason ein Geheimnis. »Du hast den Nebel ganz schön im Griff, Kleiner, wenn du all diesen Leuten weismachen kannst, dass sie dich kennen, aber mich kannst du nicht an der Nase herumführen. Ich rieche jetzt schon seit Tagen Monster. Ich wusste, dass wir einen Infiltrator unter uns haben, aber du riechst nicht wie ein Ungeheuer. Du riechst wie ein Halbblut. Also – wer bist du und woher kommst du?«

Das meiste davon, was der Trainer sagte, ergab keinen Sinn, aber Jason beschloss, ehrlich zu antworten. »Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich habe keinerlei Erinnerung. Sie müssen mir helfen.«

Trainer Hedge sah ihm ins Gesicht und schien zu versuchen, Jasons Gedanken zu lesen.

»Na großartig«, murmelte Hedge. »Du sagst die Wahrheit.«