Er rannte zum Kopf des Drachen. Der versuchte, nach ihm zu schnappen, aber seine Zähne steckten im Netz fest. Wieder spie der Drache Feuer, aber seine Energie schien zu schwinden. Diesmal waren die Flammen nur orange. Sie erloschen, noch ehe sie Leos Gesicht erreicht hatten.
»Hör mal zu, Alter«, sagte Leo. »So zeigst du ihnen nur, wo du bist. Und dann kommen sie und holen Säure und Metallschneider raus. Willst du das wirklich?«
Der Drache stieß nur krächzende Laute aus, als ob er etwas zu sagen versuchte.
»Na gut«, sagte Leo. »Dann musst du mir vertrauen.«
Und Leo machte sich ans Werk.
Er brauchte fast eine Stunde, um die Festplatte zu finden. Die befand sich gleich hinter dem Kopf des Drachen, was ihm logisch vorkam. Er ließ den Drachen lieber im Netz, denn er konnte leichter arbeiten, solange der Drache gefesselt war, aber dem Drachen passte das gar nicht.
»Stillhalten!«, schimpfte Leo.
Der Drache stieß ein weiteres Krächzgeräusch aus, das auch ein Jammern hätte sein können.
Leo untersuchte die Drähte im Drachenkopf. Ein Geräusch im Wald lenkte ihn ab, aber als er aufschaute, war es nur ein Baumgeist – eine Dryade, so wurden sie wohl genannt –, die die Flammen in ihren Zweigen löschte. Zum Glück hatte der Drache keinen Waldbrand ausgelöst, aber trotzdem war die Dryade nicht gerade begeistert. Ihr Kleid rauchte. Sie erstickte die Flammen mit einer Seidendecke, und als sie merkte, dass Leo sie ansah, machte sie eine Handbewegung, die auf Dryadisch vermutlich überaus unhöflich war. Dann verschwand sie in einer grünen Nebelschwade.
Leo wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Drähten zu. Sie waren genial gelegt, und für ihn ergab das alles einen Sinn. Das hier war das Relais zur Motorkontrolle. Es verarbeitete alle sinnlichen Eindrücke der Augen. Diese Platte …
»Ha«, sagte er. »Na, kein Wunder.«
Krächz?, fragte der Drache.
»Du hast eine korrodierte Kontrollplatte. Vermutlich ist die zuständig für deine höheren Vernunftstromkreise, klar? Rostiges Gehirn, Alter. Kein Wunder, dass du ein wenig … verwirrt bist.« Er hätte fast »verrückt« gesagt, riss sich aber zusammen. »Wenn ich nur eine Ersatzplatte hätte, aber … das ist ein ganz schön komplizierter Stromkreis. Ich werde sie herausnehmen und säubern müssen. Dauert nur eine Minute.« Er nahm die Platte heraus und der Drache erstarrte. Das Glühen in seinen Augen erlosch. Leo rutschte von seinem Rücken und fing an, die Platte zu säubern. Er wischte mit seinem Ärmel ein wenig Öl und Tabascosoße auf, und das half, den ärgsten Dreck zu lösen, aber je mehr er wischte, umso mehr wuchs seine Besorgnis. Einige Stromkreise waren nicht mehr reparabel. Er konnte die Lage verbessern, aber nicht vollständig reparieren. Dazu hätte er eine ganz neue Festplatte gebraucht, und er hatte keine Ahnung, wie er die bauen sollte.
Er versuchte, schnell zu arbeiten. Er wusste nicht, wie lange die Festplatte des Drachen ausgeschaltet bleiben konnte, ohne beschädigt zu werden – vielleicht unwiederbringlich –, und er wollte kein Risiko eingehen. Als er getan hatte, was er konnte, kletterte er wieder auf den Drachenkopf und fing an, Drähte und Schaltkästen zu säubern und sich dabei selber total einzusauen.
»Saubere Hände, schmutziges Werkzeug«, murmelte er, das hatte seine Mutter immer gesagt. Als er fertig war, waren seine Hände schwarz vor Dreck und seine Kleider sahen aus, als ob er soeben eine Runde Schlammcatchen verloren hätte, aber das Dracheninnere sah viel besser aus. Er legte die Festplatte wieder ein, schloss den letzten Draht an und Funken stoben auf. Der Drache schüttelte sich. Seine Augen fingen an zu glühen.
»Besser?«, fragte Leo.
Der Drache stieß ein Geräusch aus wie ein Hochgeschwindigkeitsbohrer. Er öffnete den Schlund und seine Zähne rotierten.
»Das heißt vermutlich ja. Moment noch, dann bist du befreit.«
Leo brauchte noch dreißig Minuten, um die Öffnungsklammern des Netzes zu finden, aber endlich stand der Drache auf und schüttelte das Netz von seinem Rücken. Er brüllte triumphierend und spie Feuer gen Himmel.
»Echt jetzt«, sagte Leo. »Könntest du mal mit dem Rumprotzen aufhören?«
Krächz?, fragte der Drache.
»Du brauchst einen Namen«, entschied Leo. »Ich werde dich Festus nennen.«
Der Drache ließ seine Zähne wirbeln und grinste. Jedenfalls hoffte Leo, dass es ein Grinsen war.
»Okay«, sagte Leo. »Aber wir haben noch immer ein Problem, du hast nämlich keine Flügel.«
Festus warf den Kopf in den Nacken und schnaubte Dampf aus. Dann senkte er in einer unmissverständlichen Geste den Rücken. Leo sollte daraufsteigen.
»Wohin geht es denn?«, fragte Leo.
Aber er war zu aufgeregt, um auf eine Antwort zu warten. Er kletterte auf den Rücken des Drachen und Festus jagte in den Wald.
Leo verlor alles Zeitgefühl und jeglichen Richtungssinn. Es schien unmöglich, dass der Wald so tief und wild war, aber der Drache lief weiter, bis die Bäume groß wie Wolkenkratzer waren und der Baldachin aus Blättern über ihnen den Blick zu den Sternen versperrte. Sogar das Feuer in Leos Hand hätte ihnen den Weg nicht mehr zeigen können, aber die glühenden roten Drachenaugen waren wie Scheinwerfer.
Endlich überquerten sie einen Bach und blieben stehen, vor einem Kalksteinfelsen, der über dreißig Meter hoch war – eine solide Wand, an der der Drache unmöglich hochsteigen konnte.
Festus hob ein Bein wie ein Hund.
»Was ist los?« Leo ließ sich zu Boden gleiten. Er ging zu der Wand – nichts als solider Fels. Der Drache blieb regungslos stehen.
»Der geht dir nicht aus dem Weg«, sagte Leo zu ihm.
Die losen Drähte im Hals des Drachen sprühten Funken, ansonsten verhielt er sich still. Leo legte die Hand an die Felswand. Plötzlich fingen seine Finger an zu schwelen. Feuerfäden schossen aus seinen Fingerspitzen wie brennendes Schießpulver und jagten zischend über den Kalkstein. Die Fäden rasten über die Felswand, bis sie eine rot glühende Tür hineingebrannt hatten, die fünfmal so groß war wie Leo. Er wich zurück und die Tür öffnete sich, beunruhigend leise für so einen riesigen Felsbrocken.
»Perfekt ausbalanciert«, murmelte er. »Erstklassige Ingenieursarbeit.«
Der Drache löste sich aus seiner Erstarrung und marschierte in den Felsen, als sei er dort zu Hause.
Leo ging hinterher und die Tür fing an, sich zu schließen. Leo bekam Panik und dachte an den Abend vor langer Zeit in der Werkstatt, als er eingeschlossen worden war. Was, wenn er hier nicht mehr herauskam? Aber dann leuchteten flackernde Lichter auf – eine Mischung aus elektrischen Leuchtstofflampen und an den Wänden angebrachten Fackeln. Als Leo diese Höhle sah, wollte er gar nicht mehr weg.
»Festus«, murmelte er. »Wo sind wir hier denn gelandet?«
Der Drache trampelte in die Mitte des Raumes, hinterließ Spuren in dem dicken Staub und rollte sich auf einer großen runden Drehbühne zusammen.
Die Höhle war so groß wie ein Flugzeughangar und hatte endlose Reihen von Arbeitstischen und Staukisten, Reihen von garagengroßen Türen an jeder Wand und Treppen, die zu einem Netzwerk von Gehsteigen hoch über ihnen führten. Alles war voll Werkzeug – hydraulische Lifte, Schweißgeräte, Schutzanzüge, Presslufthammer, Gabelstapler und etwas, das bedenkliche Ähnlichkeit mit einer nuklearen Reaktionskammer hatte. Pinnwände waren übersät mit zerfetzten, verschossenen Bauplänen. Dazu Waffen, Rüstungsteile, Schilde – Kriegsausrüstung überall, vieles davon nur teilweise fertiggestellt.
An Ketten hoch über der Plattform, auf der der Drache lag, hing ein altes Banner, das fast zu zerfetzt war, um noch lesbar zu sein. Die Buchstaben waren griechisch, aber irgendwoher wusste Leo, was dort stand: BUNKER 9.
9 wie die Hütte des Hephaistos oder 9, weil es noch acht andere gab? Leo sah Festus an, der noch immer zusammengerollt auf der Drehbühne lag, und ihm ging auf, dass der Drache so zufrieden aussah, weil er hier zu Hause war. Vermutlich war er auf dieser Bühne gebaut worden.