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»Wissen die anderen …?« Leo verstummte mitten in der Frage. Diese Halle war offenbar seit Jahrzehnten verlassen. Leo war der Erste, der den Bunker betrat, seit … seit langer Zeit. Bunker 9 war aufgegeben worden, während alle möglichen Projekte halb vollendet auf den Tischen herumlagen. Abgeschlossen und vergessen, aber warum?

Leo schaute eine Karte an der Wand an – eine strategische Karte des Camps, das Papier war eingerissen und gelb wie Zwiebelschalen. Die Jahreszahl ganz unten lautete 1884.

»Nie im Leben«, murmelte er.

Dann entdeckte er an einer Pinnwand in der Nähe einen Bauplan und sein Herz hämmerte wie wild drauflos. Er rannte zum Arbeitstisch und schaute auf zu einer weißen Zeichnung, die fast bis zur Unkenntlichkeit verblasst war: ein griechisches Schiff aus mehreren unterschiedlichen Winkeln, darunter kaum leserliche Wörter gekritzelt: WEISSAGUNG? UNKLAR. FLUG?

Das war das Schiff, das er in seinen Träumen gesehen hatte – das fliegende Schiff. Jemand hatte versucht, es zu bauen, oder jedenfalls einen Plan entworfen. Dann war es aufgegeben worden, vergessen … eine Weissagung, die sich noch erfüllen musste. Und das Seltsamste war, dass die Galionsfigur genauso aussah wie die, die Leo mit fünf Jahren gezeichnet hatte – wie der Kopf eines Drachen.

»Sieht aus wie du, Festus«, murmelte er. »Das ist ja total unheimlich.«

Beim Anblick der Galionsfigur wurde Leo nervös, aber er hatte so viele andere Fragen im Kopf, dass er nicht lange darüber nachdachte. Er griff nach dem Bauplan in der Hoffnung, ihn herunternehmen und genauer betrachten zu können, aber das Papier zerfiel bei der Berührung, deshalb ließ er es in Ruhe. Er hielt Ausschau nach anderen Hinweisen. Keine Boote. Keine Einzelteile, die wie Stücke dieses Projekts aussahen, aber es gab noch jede Menge Türen und Lagerräume zu erforschen.

Festus schnaubte, als wolle er Leos Aufmerksamkeit erregen und ihn daran erinnern, dass sie nicht die ganze Nacht Zeit hätten. Und das stimmte, Leo schätzte, dass bis zum Morgen nur noch wenige Stunden blieben, und er war total von seinem Ziel abgekommen.

Er hatte den Dachen gerettet, aber das würde ihm bei seinem Einsatz nicht helfen. Er brauchte etwas, das fliegen konnte.

Festus schob ihm etwas hin – einen Werkzeuggürtel aus Leder, der neben einem Reißbrett liegengeblieben war. Dann schaltete der Drache seine glühenden roten Augenstrahler ein und richtete sie zur Decke hoch. Leo schaute in die Richtung, in die die Scheinwerfer zeigten, und quiekte auf, als er sah, was da in der Dunkelheit über ihnen hing.

»Festus«, sagte er leise. »Arbeit für uns.«

XIII

Jason

Jason träumte von Wölfen.

Er stand auf einer Lichtung mitten in einem Wald aus riesigen Mammutbäumen. Vor ihm erhoben sich die Ruinen eines Steingebäudes. Tief hängende graue Wolken gingen in den Bodennebel über und kalter Regen hing in der Luft. Eine Meute aus riesigen grauen Tieren drängte sich um ihn, rieb sich an seinen Beinen, bleckte die Zähne und fauchte. Behutsam schoben sie ihn auf die Ruine zu.

Jason hatte keine Lust, zum größten Hundekeks der Welt zu werden, deshalb beschloss er, ihnen ihren Willen zu lassen.

Der Boden quatschte unter seinen Stiefeln, als er weiterging. Steinerne Reste von Schornsteinen, die an keinem Dach mehr befestigt waren, ragten auf wie Totempfähle. Das Haus musste einmal riesengroß gewesen sein, mit mehreren Stockwerken und einem hohen Giebel, aber jetzt war nur noch das steinerne Skelett übrig. Jason ging durch einen zerfallenden Torbogen und betrat eine Art Innenhof.

Vor ihm lag ein langes, viereckiges Becken. Jason konnte nicht sehen, wie tief es war, denn es war mit Nebel gefüllt. Ein Lehmweg führte um das Becken herum und zu beiden Seiten erhoben sich die ungleichmäßigen Mauerreste des Hauses. Wölfe liefen unter den Bögen aus rotem Lavagestein auf und ab.

Am anderen Ende des Beckens saß eine riesige Wölfin, die fast einen Meter größer war als Jason. Ihre Augen glühten im Nebel silbern und ihr Fell war von der Farbe der Felsbrocken, ein warmes schokoladiges Rot.

»Ich weiß, wo ich bin«, sagte Jason.

Die Wölfin musterte ihn. Sie benutzte zwar keine Wörter zum Sprechen, aber Jason konnte sie trotzdem verstehen. Die Bewegungen ihrer Ohren und ihrer Schnurrhaare, das Leuchten der Augen, die Art, wie sie die Lippen verzog – das alles gehörte zu ihrer Sprache.

Natürlich, sagte die Wölfin. Hier hast du als Welpe deine Reise begonnen. Jetzt musst du den Weg zurück finden. Ein neuer Auftrag, ein neuer Anfang.

»Das ist nicht fair«, sagte Jason. Aber kaum hatte er das gesagt, da wusste er, dass es keinen Zweck haben würde, sich bei der Wölfin zu beschweren. Wölfe kennen kein Mitleid. Sie erwarten keine Fairness.

Siegen oder sterben. So haben wir es schon immer gehalten, sagte die Wölfin.

Jason wollte einwenden, dass er nicht siegen könnte, wenn er nicht wüsste, wer er war oder wohin er gehen sollte. Aber er kannte diese Wölfin. Sie hieß einfach Lupa, die Mutterwölfin, die größte der Art. Vor langer Zeit hatte sie ihn hier gefunden, ihn beschützt, ihn ernährt, ihn erwählt, aber wenn er Schwäche zeigte, würde sie ihn in Fetzen reißen. Statt ihr Welpe zu sein, würde er zu ihrem Abendbrot werden. In der Wolfsmeute war Schwäche nicht erlaubt.

»Kannst du mir den Weg zeigen?«, fragte Jason.,

Lupa machte tief in ihrer Kehle ein grollendes Geräusch und der Nebel im Becken löste sich auf.

Zuerst begriff Jason nicht so ganz, was er da sah. An den entgegengesetzten Enden des Beckens schossen zwei dunkle, spitze, turmartige Gebilde aus dem Zement, wie die Bohrer von zwei riesigen Tunnelgrabmaschinen. Jason wusste nicht, ob sie aus Stein oder versteinerten Tauen waren, aber beide waren aus einer Art dicken Ranken geformt, die oben in einer Spitze aufeinandertrafen. Die beiden Gebilde waren an die ein Meter fünfzig hoch, aber sie waren nicht identisch. Das Jason näher gelegene war dunkler und wirkte wie eine solide Masse, die Ranken waren miteinander verschmolzen. Vor Jasons Augen schob sich die Spitze noch ein kleines Stück aus der Erde und wurde ein wenig breiter.

Die Ranken des zweiten Gebildes wirkten auf Lupas Seite des Beckens offener, wie Gitterstäbe. Dahinter konnte Jason eine nebelhafte Gestalt erahnen, deren Form sich in ihrem Käfig immer wieder änderte.

»Hera«, sagte Jason.

Die Wölfin knurrte zustimmend. Die anderen Wölfe umkreisten das Becken, ihr Nackenfell sträubte sich, als sie die Käfige anfauchten.

Die Feindin hat sich diesen Ort ausgesucht, um ihren mächtigsten Sohn zu erwecken, den Riesenkönig, sagte Lupa. Unsere heilige Stätte, wo Halbgötter anerkannt werden – den Ort von Tod oder Leben. Das abgebrannte Haus. Das Haus des Wolfs. Es ist eine Schande. Du musst sie aufhalten.

»Sie?«, fragte Jason verwirrt. »Du meinst Hera?« Die Wölfin knirschte ungeduldig mit den Zähnen. Denk doch nach, Welpe. Juno ist mir egal, aber wenn sie stürzt, wird unser Feind erwachen. Und das wäre unser aller Untergang. Du kennst diesen Ort. Du kannst ihn wiederfinden. Reinige unser Haus. Mach all dem ein Ende, ehe es zu spät ist.

Der spitze dunkle Käfig wurde langsam größer, wie die Zwiebel einer entsetzlichen Blume. Jason ahnte, dass sie, falls sie sich jemals öffnete, etwas freilassen würde, dem er auf keinen Fall über den Weg laufen wollte.

»Wer bin ich?«, fragte Jason die Wölfin. »Sag mir wenigstens das.«

Wölfe haben nicht gerade viel Sinn für Humor, aber Jason sah, dass Lupa diese Frage komisch fand, als wäre Jason ein Hundebaby, das seine Krallen testete und übte, das Alphamännchen zu werden.

»Du bist unsere letzte Hoffnung. Du darfst nicht versagen, Sohn des Jupiter.«

XIV

Jason

Jason wurde vom Donner geweckt. Dann fiel ihm ein, wo er war. In Hütte 1 donnerte es immer.