Die gewölbte Decke über seinem Bett war mit einem blauweißen Mosaik geschmückt, wie ein wolkiger Himmel. Die Wolken wanderten über die Decke und wechselten zwischen Weiß und Schwarz. Donner grollte im Raum und goldene Steine leuchteten wie Blitze auf.
Abgesehen von dem Feldbett, das die anderen Campinsassen ihm gebracht hatten, gab es in der Hütte keine normalen Möbel – keine Stühle, Tische oder Kommoden. Wenn Jason das richtig sah, hatte die Hütte nicht einmal ein Badezimmer. An den Wänden waren eine Menge Nischen, jede enthielt ein bronzenes Kohlenbecken oder einen goldenen Adler auf einem Marmorsockel. Mitten im Raum stand eine fast sieben Meter hohe farbige Statue des Zeus mit einem Schild an der Seite und erhobenem Blitzstrahl.
Jason musterte die Statue und suchte etwas, das er mit dem Herrn des Himmels gemeinsam hatte. Schwarze Haare? Nö. Düstere Miene? Na ja, vielleicht. Bart? Lieber nicht. In seinen langen Gewändern und den Sandalen sah Zeus aus wie ein ganz schön brutaler, wütender Hippie.
Na toll. Hütte 1. Eine große Ehre, hatten die anderen Campbewohner ihm erzählt. Klar, wenn man gern ganz allein in einem kalten Tempel schlief, während einen die ganze Nacht lang der Hippie Zeus stirnrunzelnd anstarrte.
Jason stand auf und rieb sich den Nacken. Sein ganzer Körper war steif, weil er wenig geschlafen und davor Blitze herbeigerufen hatte. Dieser kleine Trick in der vergangenen Nacht war ihm nicht so leicht gefallen, wie er vorgegeben hatte. Es hatte ihn fast umgeworfen.
Neben dem Feldbett lag frische Kleidung für ihn bereit: Jeans, Turnschuhe und ein orangefarbenes Camp-T-Shirt. Er brauchte wirklich neue Klamotten, aber als er sein zerfetztes lila Hemd ansah, brachte er es nicht über sich, es abzulegen. Es kam ihm irgendwie falsch vor, das Camp-T-Shirt anzuziehen. Er konnte noch immer nicht glauben, dass er hierher gehörte, egal, was sie ihm alles erzählten.
Er dachte an seinen Traum und hoffte, dass sich noch mehr Erinnerungen an Lupa oder an das zerfallene Haus zwischen den Mammutbäumen einstellen würden. Er wusste, dass er schon einmal dort gewesen war. Es gab diese Wölfin. Aber sein Kopf tat weh, als er versuchte, sich zu erinnern. Die Tätowierung an seinem Unterarm schien zu brennen.
Wenn er diese Ruinen fände, würde er auch seine Vergangenheit finden. Was immer in diesem Felsenkäfig wuchs, Jason musste dem ein Ende machen.
Er sah Hippie Zeus an. »Du könntest mir ruhig helfen.«
Die Statue sagte nichts.
»Danke, Paps«, murmelte Jason.
Er zog sich um und überprüfte in Zeus’ Schild sein Spiegelbild. Sein Gesicht sah in dem Metall verwaschen und seltsam aus, als ob er sich in einem goldenen Teich auflöste. Er sah nicht annähernd so gut aus wie Piper am vergangenen Abend, nachdem sie sich plötzlich verwandelt hatte.
Jason wusste noch immer nicht, was er für sie empfand. Er hatte sich wie ein Idiot aufgeführt, als er vor allen anderen verkündet hatte, sie sei umwerfend. Nicht, dass vorher etwas an ihr auszusetzen gewesen wäre. Klar, sie hatte großartig ausgesehen, nachdem Aphrodite sie kurz durchgestylt hatte, aber andererseits hatte sie nicht mehr wie sie selbst ausgesehen und die Aufmerksamkeit war ihr unangenehm gewesen. Sie hatte Jason leidgetan. Vielleicht war das verrückt, schließlich war sie gerade von einer Göttin anerkannt und in das umwerfendste Mädchen im Camp verwandelt worden. Alle hatten sich um sie bemüht und ihr erzählt, wie toll sie sei und dass natürlich sie auf den Einsatz geschickt werden müsste – aber diese Schmeicheleien hatten nichts damit zu tun gehabt, wer sie war. Neues Kleid, neues Make-up, leuchtende rosa Aura und bumm: Plötzlich war sie total beliebt. Jason hatte das Gefühl, sie zu verstehen.
Als er am vorigen Abend den Blitz herbeigerufen hatte, waren die Reaktionen der anderen im Camp ihm vertraut gewesen. Er war ziemlich sicher, dass er das schon oft erlebt hatte – dass die anderen ihn voller Ehrfurcht anschauten und auf besondere Weise behandelten, nur weil er der Sohn des Zeus war, dass das mit ihm selbst aber nichts zu tun hatte. Niemand interessierte sich für ihn persönlich, es ging nur darum, dass sein riesiger beängstigender Daddy mit dem Weltuntergangsblitz hinter ihm stand, wie um zu sagen: Behandelt diesen Jungen gut, oder ihr kriegt einen elektrischen Schlag verpasst.
Nach dem Lagerfeuer, als alle sich in ihre Hütten verzogen hatten, hatte Jason Piper offiziell gebeten, ihn bei dem Einsatz zu begleiten.
Sie hatte noch immer unter Schock gestanden, aber sie hatte genickt und sich die Arme gerieben, die in dem ärmellosen Kleid sicher froren.
»Aphrodite hat meine Fleecejacke kassiert«, murmelte sie verärgert. »Von meiner eigenen Mom ausgeraubt.«
In der ersten Reihe des Amphitheaters fand Jason eine Decke und legte sie um Pipers Schultern. »Wir besorgen dir eine neue Jacke«, versprach er. Ihr gelang ein Lächeln. Er hätte gern die Arme um sie gelegt, hielt sich aber zurück. Er wollte nicht so oberflächlich auf sie wirken wie alle anderen – als ob er sich ihr näherte, weil sie so schön geworden war.
Er war froh, dass Piper ihn begleiten würde. Jason hatte am Lagerfeuer versucht, den Mutigen zu spielen, aber mehr als Schauspielerei war es nicht gewesen. Die Vorstellung, sich einer bösen Macht zu stellen, mächtig genug, um Hera zu entführen, machte ihm eine Wahnsinnsangst, vor allem, da er seine eigene Vergangenheit nicht kannte. Er würde Hilfe brauchen, und es kam ihm richtig vor, dass Piper dabei war. Aber auch wenn er sich nicht mit der Frage quälte, wie sehr er sie mochte und warum, war alles schon kompliziert genug. Er hatte sie schon genug verwirrt.
Er stieg in seine neuen Schuhe und wollte die kalte, leere Hütte verlassen. Dann sah er etwas, das er am Vorabend noch nicht entdeckt hatte. Eine Kohlenpfanne war aus einem Alkoven entfernt worden, um eine Schlafnische zu schaffen, mit einem Schlafsack, einem Rucksack und sogar einigen an die Wand geklebten Bildern.
Jason ging hinüber. Wer immer hier geschlafen haben mochte, es musste lange her sein. Der Schlafsack roch schimmelig. Der Rucksack war von einer dünnen Staubschicht bedeckt. Einige der Fotos waren von der Wand auf den Boden gefallen.
Ein Bild zeigte Annabeth – viel jünger, vielleicht acht, aber Jason erkannte sie trotzdem: dieselben blonden Haare und grauen Augen; der zerstreute Blick, als denke sie an eine Million Dinge auf einmal. Sie stand neben einem vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alten Typen mit sandfarbenen Haaren, einem boshaften Lächeln und einer zerfetzten Lederrüstung über einem T-Shirt. Er zeigte auf eine Gasse hinter ihnen, als wolle er dem Fotografen sagen: Jetzt sehen wir mal, was sich in dieser hohlen Gasse herumtreibt, und bringen es um. Ein zweites Foto zeigte Annabeth und denselben Typen, sie saßen an einem Lagerfeuer und wollten sich offenbar ausschütten vor Lachen.
Dann hob Jason eins der heruntergefallenen Fotos auf. Es war einer von diesen Schnappschüssen aus dem Fotoautomaten: Annabeth und der Typ mit den sandfarbenen Haaren, aber zwischen ihnen saß noch ein anderes Mädchen. Sie war vielleicht fünfzehn und hatte schwarze Haare – kurz geschoren wie Pipers –, eine schwarze Lederjacke und silbernen Schmuck. Sie sah damit ein bisschen nach Goth aus, aber sie lachte und es war klar, dass sie mit ihren beiden besten Freunden zusammen war.
»Das ist Thalia«, sagte jemand.
Jason fuhr herum.
Annabeth schaute über seine Schulter. Sie sah traurig aus, als ob das Bild schlimme Erinnerungen weckte. »Sie ist das andere Kind des Zeus, das hier gelebt hat – aber nicht lange. Entschuldige, ich hätte klopfen sollen.«
»Ist schon gut«, sagte Jason. »Ich betrachte diese Hütte ja nicht gerade als mein Zuhause.«
Annabeth war für die Reise gekleidet, sie hatte einen Wintermantel über ihre Campkleidung gezogen, ein Messer am Gürtel hängen und trug einen Rucksack.
Jason sagte: »Ich vermute, du hast es dir nicht noch mal anders überlegt und kommst doch mit uns?«
Sie schüttelte den Kopf. »Du hast schon ein gutes Team. Ich mache mich auf die Suche nach Percy.«