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Jason war ein bisschen enttäuscht. Er hätte so gern jemanden bei sich gehabt, der wusste, was zu tun war, denn dann hätte er nicht das Gefühl, Piper und Leo in einen Abgrund zu führen.

»He, wird schon gut gehen«, versprach Annabeth. »Eine innere Stimme sagt mir, dass das hier nicht dein erster Auftrag ist.«

Jason hatte den vagen Verdacht, dass sie Recht hatte, aber deshalb fühlte er sich trotzdem nicht viel besser. Alle schienen ihn für ungeheuer tapfer und voller Selbstvertrauen zu halten und sahen nicht, wie verloren er sich in Wirklichkeit vorkam. Wie konnten sie ihm vertrauen, wenn er nicht einmal wusste, wer er war?

Er sah die Fotos der lächelnden Annabeth an. Er hätte gern gewusst, wie lange sie schon nicht mehr gelächelt hatte. Offenbar hatte sie diesen Percy wahnsinnig gern, wo sie so viel Energie in die Suche nach ihm steckte, und Jason war ein wenig neidisch. Ob nach ihm wohl gerade jetzt auch jemand suchte? Was, wenn auch ihn ein Mädchen gernhatte und vor Sorge fast wahnsinnig wurde, während er sich an sein altes Leben nicht einmal erinnern konnte?

»Du weißt, wer ich bin«, sagte er fragend. »Oder?«

Annabeth packte den Griff ihres Dolches. Sie hielt Ausschau nach einem Stuhl, aber es gab keinen. »Ehrlich, Jason … ich bin nicht sicher. Wahrscheinlich bist du ein Einzelgänger. Die gibt es manchmal. Aus irgendeinem Grund hat das Camp dich nie gefunden, aber du hast trotzdem überlebt, weil du immer unterwegs warst. Hast dir das Kämpfen selbst beigebracht. Bist allein mit den Monstern fertig geworden. Du hast alle Wahrscheinlichkeit besiegt.«

»Das Erste, was Chiron zu mir gesagt hat«, erinnerte sich Jason jetzt, »war: Du müsstest tot sein.«

»Das könnte er gemeint haben«, sagte Annabeth. »Die meisten Halbgötter würden allein niemals überleben. Und ein Kind des Zeus – Ich meine, gefährlicher geht es doch gar nicht. Die Chancen, dass du fünfzehn wirst, ohne das Camp Half-Blood zu finden oder umzukommen, sind mikroskopisch klein. Aber wie gesagt, es kommt vor. Thalia ist durchgebrannt, als sie klein war. Sie hat jahrelang allein überlebt. Hat sich eine Zeit lang sogar noch um mich gekümmert. Also warst du vielleicht auch ein Einzelgänger.«

Jason streckte den Arm aus. »Und dieses Tattoo?«

Annabeth sah es kurz an. Ganz offenbar machte es ihr zu schaffen. »Na ja, der Adler ist das Symbol des Zeus, das ergibt doch Sinn. Und die zwölf Striche – die stehen vielleicht für Jahre, wenn du mit drei Jahren den ersten bekommen hast. SPQR – das ist das Motto des alten Römischen Reichs: Senatus populusque romanus, Senat und Volk von Rom. Warum du dir so was in den Arm einbrennst, weiß ich aber wirklich nicht. Falls du nicht einen superbrutalen Lateinlehrer hattest …«

Jason war ziemlich sicher, dass das nicht der Grund war. Und es kam ihm unmöglich vor, dass er sein Leben lang allein gewesen sein sollte. Aber was sonst? Annabeth hatte es ganz klar gesagt: Camp Half-Blood war auf der ganzen Welt der einzige sichere Aufenthaltsort für Halbgötter.

»Ich, äh … ich hatte vorige Nacht einen seltsamen Traum.« Es kam ihm blödsinnig vor, ihr das anzuvertrauen, aber Annabeth wirkte überhaupt nicht überrascht.

»Passiert Halbgöttern dauernd«, sagte sie. »Was hast du gesehen?«

Er erzählte ihr von den Wölfen und dem zerfallenen Haus und den beiden Käfigtürmen. Während er noch redete, fing Annabeth an, hin und her zu laufen, und sie sah zusehends erregter aus.

»Du weißt nicht mehr, wo dieses Haus steht?«, fragte sie.

Jason schüttelte den Kopf. »Aber ich bin sicher, dass ich schon einmal dort war.«

»Mammutbäume«, sagte sie nachdenklich. »Könnte Nord-Kalifornien sein. Und die Wölfin … ich befasse mich schon mein Leben lang mit Göttinnen, Geistern und Monstern. Aber von einer Lupa habe ich noch nie gehört.«

»Sie sagte, ich hätte eine Feindin. Ich dachte, vielleicht meint sie Hera …«

»Ich würde Hera niemals vertrauen, aber ich glaube nicht, dass sie diese Feindin ist. Und dieses Ding, das da aus der Erde kommt …« Annabeths Miene verdüsterte sich. »Das musst du aufhalten.«

»Du weißt, was das ist, oder?«, fragte er. »Zumindest hast du eine Vermutung. Ich habe gestern Abend am Lagerfeuer dein Gesicht gesehen. Du hast Chiron angestarrt, als ob es dir plötzlich dämmerte, du uns aber keine Angst einjagen wolltest.«

Annabeth zögerte. »Jason, die Sache mit Weissagungen ist … je mehr du weißt, umso mehr versuchst du, sie zu verändern, und das kann katastrophale Folgen haben. Chiron glaubt, es ist besser, wenn du deinen eigenen Weg findest, alles in deinem eigenen Tempo in Erfahrung bringst. Wenn er mir alles erzählt hätte, was er wusste, ehe ich das erste Mal mit Percy losgezogen bin … ich muss zugeben, ich bin nicht sicher, ob ich das durchgestanden hätte. Und bei deinem Auftrag ist das noch wichtiger.«

»Ist es so schlimm?«

»Nicht, wenn du Erfolg hast. Wenigstens hoffe ich das.«

»Aber ich weiß ja nicht einmal, wo ich anfangen soll. Wo soll ich denn hingehen?«

»Du solltest den Monstern folgen,« schlug Annabeth vor.

Jason dachte darüber nach. Der Sturmgeist, der ihn im Grand Canyon angegriffen hatte, hatte gesagt, seine Herrin habe ihn zurückgerufen. Wenn Jason die Spur der Sturmgeister wiederfand, konnte er vielleicht auch die Person finden, die über sie herrschte. Und vielleicht würde ihn das zu Heras Gefängnis bringen.

»Na gut«, sagte er. »Wie finde ich die Sturmgeister?«

»Ich würde einen Windgott fragen«, sagte Annabeth. »Aeolus ist der Herr aller Winde, aber er ist ein wenig … unberechenbar. Niemand findet ihn, wenn er das nicht will. Versuch es mit einem der vier Windgötter, die für Aeolus arbeiten. Der nächste, und der, der am meisten mit Helden zu tun hat, ist Boreas, der Nordwind.«

»Wenn ich ihn also bei Google Maps eingebe …«

»Ach, der ist nicht schwer zu finden«, sagte Annabeth tröstend. »Er hat sich wie alle anderen Götter in Nordamerika niedergelassen. Und natürlich hat er sich die älteste nördliche Siedlung ausgesucht, so weit nördlich, wie überhaupt möglich.«

»Maine?«, fragte Jason.

»Weiter.«

Jason versuchte, sich eine Landkarte vorzustellen. Was war weiter nördlich als Maine? Die älteste nördliche Siedlung …

»Kanada«, entschied er. »Quebec.«

Annabeth lächelte. »Ich hoffe, du kannst Französisch.«

Jason fühlte sich gleich ein wenig zuversichtlicher. Jetzt hatte er doch immerhin ein Ziel. Den Nordwind finden, die Sturmgeister aufspüren, feststellen, für wen sie arbeiteten und wo das zerfallene Haus stand. Hera befreien. Und alles in vier Tagen. Kinderspiel.

»Danke, Annabeth.« Er sah das Foto an, das er noch immer in der Hand hielt. »Also, äh … du hast gesagt, es sei gefährlich, ein Kind des Zeus zu sein. Was ist aus Thalia geworden?«

»Ach, der geht es gut«, sagte Annabeth. »Sie ist jetzt eine Jägerin der Artemis – eine der Gehilfinnen dieser Göttin. Sie ziehen durch das Land und bringen Monster um. Sie kommt nicht oft im Camp vorbei.«

Jason schaute zu dem großen Standbild des Zeus hinüber. Er begriff, warum Thalia in diesem Alkoven geschlafen hatte. Es war die einzige Stelle in der Hütte, die Hippie Zeus nicht im Blick hatte. Und nicht einmal das hatte ihr gereicht. Sie hatte es vorgezogen, der Artemis zu folgen und einer Gruppe anzugehören, statt in diesem zugigen alten Tempel zu hausen, allein mit ihrem sieben Meter großen Dad – Jasons Dad! –, der wütend auf sie herabstarrte. Du kriegst gleich einen elektrischen Schlag verpasst. Jason konnte Thalias Gefühle sehr gut nachvollziehen. Er hätte gern gewusst, ob es auch eine Jägergruppe für Jungen gab.

»Wer ist der Typ da auf dem Foto?«, fragte er. »Der mit den sandfarbenen Haaren?«

Annabeth Gesicht verdüsterte sich. Schlechtes Thema.

»Das ist Luke«, sagte sie. »Er lebt nicht mehr.«

Jason beschloss, keine weiteren Fragen zu stellen, aber so, wie Annabeth Lukes Namen genannt hatte, fragte er sich, ob Percy Jackson vielleicht nicht der einzige Junge war, den Annabeth jemals gerngehabt hatte.