Er richtete seinen Blick wieder auf Thalias Gesicht. Es kam ihm so vor, als ob dieses Foto von ihr wichtig war. Irgendetwas war ihm entgangen.
Jason fühlte sich auf seltsame Weise verbunden mit dieser Tochter des Zeus – sie würde seine Verwirrung verstehen und könnte ihm vielleicht sogar einige Fragen beantworten. Aber eine innere Stimme, ein eindringliches Flüstern sagte: Gefährlich. Abstand halten.
»Wie alt sie sie jetzt?«, fragte er.
»Schwer zu sagen. Sie war eine Zeit lang ein Baum. Jetzt ist sie unsterblich.«
»Was?«
Er musste ein total verblüfftes Gesicht gemacht haben, denn Annabeth lachte. »Keine Sorge. Das müssen nicht alle Kinder des Zeus durchmachen. Es ist eine lange Geschichte … na ja, sie war eben eine lange Zeit nicht im Einsatz. Wenn sie normal gealtert wäre, wäre sie jetzt Mitte zwanzig, aber sie sieht noch aus wie auf dem Foto, als wäre sie … na ja, in deinem Alter. Fünfzehn oder sechzehn.«
Etwas, was die Wölfin in seinem Traum gesagt hatte, machte Jason zu schaffen. Er ertappte sich bei der Frage: »Wie heißt sie mit Nachnamen?«
Annabeth schien diese Frage unbehaglich zu sein. »Sie hat ihren Nachnamen nicht benutzt. Wenn es sein musste, dann hat sie den ihrer Mutter genommen, aber sie kamen nicht gut miteinander aus. Thalia ist durchgebrannt, als sie noch ziemlich klein war.«
Jason wartete.
»Grace«, sagte Annabeth. »Thalia Grace.«
Jasons Finger wurden taub. Das Bild flatterte zu Boden.
»Stimmt was nicht?«, fragte Annabeth.
Ein Fetzen Erinnerung war wach geworden, ein einziges Stück, das Hera zu stehlen vergessen hatte. Oder vielleicht hatte sie es bewusst übrig gelassen – gerade genug, damit er sich an diesen Namen erinnerte und begriff, dass es schrecklich, schrecklich gefährlich wäre, in seiner Vergangenheit zu wühlen.
Du müsstest tot sein, hatte Chiron gesagt. Aber das hatte nichts damit zu tun, dass Jason gegen alle Wahrscheinlichkeit als Einzelgänger überlebt hatte. Chiron wusste etwas – etwas über Jasons Familie.
»Was ist los?«, fragte Annabeth.
Jason konnte das nicht für sich behalten. Dann würde es ihn umbringen, und außerdem brauchte er Annabeths Hilfe. Wenn sie Thalia kannte, konnte sie ihm vielleicht einen Rat geben.
»Du musst schwören, es niemandem zu erzählen.«
»Jason …«
»Schwöre!«, drängte er. »Bis ich herausgefunden habe, was hier vor sich geht, was das alles bedeutet …« Er rieb die eingebrannten Zeichen an seinem Unterarm. »So lange musst du es für dich behalten.«
Annabeth zögerte, aber dann trug ihre Neugier den Sieg davon. »Na gut. Bis du mir sagst, dass ich es darf, werde ich niemandem verraten, was du mir jetzt erzählst. Das schwöre ich beim Fluss Styx.«
Donner grollte, noch lauter als sonst in dieser Hütte.
Jason hob das Foto vom Boden auf.
»Mein Nachname ist Grace«, sagte er. »Das hier ist meine Schwester.«
Annabeth erbleichte. Jason konnte sehen, wie sie mit Entsetzen, Unglauben, Zorn kämpfte. Sie hielt ihn für einen Lügner. Seine Behauptung war unmöglich. Und ein Teil von ihm sah das auch so, aber sowie er es ausgesprochen hatte, wusste er, dass seine Worte die Wahrheit waren.
Dann wurden die Türen der Hütte aufgerissen. Ein halbes Dutzend Campinsassen kam hereingestürzt, angeführt von diesem kahlköpfigen Typen aus der Iris-Hütte, Butch.
»Beeilt euch«, sagte er und Jason wusste nicht, ob das in seinem Gesicht Aufregung oder Angst war. »Der Drache ist wieder da.«
XV
Piper
Piper erwachte und schnappte sich sofort einen Spiegel. Davon gab es in der Aphrodite-Hütte jede Menge. Sie setzte sich in ihrem Bett auf, sah ihr Spiegelbild an und stöhnte.
Sie sah noch immer umwerfend aus.
Am Vorabend nach dem Lagerfeuer hatte sie alles versucht. Sie hatte ihre Haare verwuschelt, hatte sich die Schminke aus dem Gesicht gewaschen, hatte geweint, um ihre Augen zu röten. Nichts hatte geholfen. Ihre Haare legten sich perfekt wieder in Form. Das magische Make-up trug sich von selbst wieder auf. Ihre Augen wollten einfach nicht anschwellen oder rot werden.
Sie hätte sich gern umgezogen, aber sie hatte keine Kleidung. Die anderen aus ihrer Hütte boten ihr welche an (und lachten hinter ihrem Rücken, da war sie sich sicher), aber alles war noch modischer und alberner als das, was sie ohnehin schon anhatte.
Und jetzt, nach einer entsetzlichen Nacht, noch immer keine Änderung. Piper sah morgens normalerweise aus wie ein Zombie, aber jetzt waren ihre Haare gestylt wie die eines Supermodels und ihre Haut war perfekt. Sogar das grausige Herpesbläschen unter ihrer Nase, das schon so viele Tage da saß, dass sie angefangen hatte, es Bob zu nennen, war verschwunden.
Sie knurrte vor Frust und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Es half nichts. Sie legten sich einfach wieder hin. Piper sah aus wie eine Cherokee-Barbie.
Vom anderen Ende der Hütte rief Drew: »Ach, Schätzchen, das geht nicht weg.« Ihre Stimme triefte vor falschem Mitgefühl. »Moms Segen wird mindestens noch einen Tag vorhalten. Vielleicht sogar eine Woche, wenn du Glück hast.«
Piper knirschte mit den Zähnen. »Eine ganze Woche?«
Die anderen aus der Aphrodite-Hütte – ungefähr ein Dutzend Mädchen und vier Jungen – feixten und kicherten über ihr Unbehagen. Piper wusste, dass sie jetzt cool spielen, sie sich keine Blöße geben durfte. Sie war schon oft mit beliebten Blendern fertiggeworden. Aber das hier war anders. Das hier waren ihre Geschwister, auch wenn sie nichts mit ihnen gemeinsam hatte, und wie Aphrodite es überhaupt geschafft hatte, so viele Kinder fast im selben Alter zu haben … Aber egal. Sie wollte es gar nicht wissen.
»Keine Sorge, Schatz.« Drew fuhr ihren selbstleuchtenden Lippenstift aus. »Du meinst, du gehörst hier nicht hin? Da sind wir ganz deiner Ansicht. Oder, Mitchell?«
Einer der Jungen zuckte zusammen. »Äh, sicher. Klar doch.«
»Mmm-hmm.« Drew griff zu ihrer Wimperntusche und überprüfte ihre Wimpern. Alle anderen sahen zu und niemand wagte, etwas zu sagen. »Leute, fünfzehn Minuten bis zum Frühstück! Diese Hütte wird nicht von selbst sauber! Und Mitchell, ich glaube, du hast deine Lektion gelernt. Oder, Süßer? Also hast du heute Mülldienst, mm-kay? Zeig Piper, wie das geht, ich habe nämlich so ein Gefühl, dass das bald ihre Aufgabe sein wird – wenn sie ihren Einsatz überlebt. An die Arbeit allesamt. Jetzt hab ich das Badezimmer gebucht.«
Alle gingen eilig ans Werk, machten Betten und falteten Kleidungsstücke zusammen, während Drew sich ihre Make-up-Tasche, ihren Föhn und ihre Bürste schnappte und im Badezimmer verschwand.
Drinnen schrie jemand auf und ein Mädchen von vielleicht elf wurde herausbefördert, in Handtücher gewickelt und noch mit Shampoo in den Haaren.
Die Tür wurde zugeschlagen und das Mädchen brach in Tränen aus. Zwei ältere Hüttenbewohnerinnen trösteten sie und rubbelten ihr das Shampoo aus den Haaren.
»Ist das euer Ernst?«, fragte Piper niemanden im Besonderen. »Ihr lasst euch von Drew so behandeln?«
Einige sahen nervös zu Piper hinüber, als ob sie möglicherweise sogar ihrer Ansicht waren, aber sie sagten nichts.
Die Hüttenbewohner arbeiteten weiter, obwohl Piper nicht fand, dass die Hütte es nötig hatte. Es war ein lebensgroßes Puppenhaus mit rosa Wänden und weißen Fensterrahmen. Die Spitzenvorhänge waren pastellblau und grün, was natürlich zu Bettwäsche und Decken auf allen Betten passte.
Die Jungen hatten eine Reihe von Etagenbetten, die mit einem Vorhang abgetrennt war, aber ihr Teil der Hütte war so sauber und ordentlich wie der der Mädchen. Irgendwas daran war eindeutig nicht normal. Alle in der Hütte hatten eine Holzkiste am Fußende ihres Bettes stehen, auf die ihr Name gemalt war, und Piper nahm an, dass die Kleider in jeder Kiste sorgfältig gefaltet und nach Farben sortiert waren. Das einzige bisschen Individualismus äußerte sich darin, wie die Wand über den Betten dekoriert war. Alle hatten unterschiedliche Bilder aufgehängt, je nachdem, auf welche Promis sie gerade scharf waren. Einige wenige hatten persönliche Fotos, aber die meisten zeigten Schauspieler oder Sänger oder andere Stars.