»Natürlich tu ich das. Aber was sagen Sie da über Monster und Halbblute? Sind das Codewörter oder so?«
Hedge kniff die Augen zusammen. Ein Teil von Jason fragte sich, ob dieser Typ einfach verrückt war, aber der andere Teil wusste es besser.
»Hör mal, Kleiner«, sagte Hedge. »Ich weiß nicht, wer du bist. Ich weiß nur, was du bist, und das bedeutet Ärger. Jetzt muss ich drei von euch beschützen und nicht nur zwei. Bist du nun die Sonderlieferung oder nicht?«
»Worüber reden Sie?«
Hedge schaute zum Gewitter hoch. Die Wolken wurden dicker und dunkler und hingen jetzt direkt über dem Gehsteig.
»Heute Morgen«, sagte Hedge, »kam eine Nachricht aus dem Camp. Sie sagen, dass ein Bergungskommando unterwegs ist. Sie sollen eine Sonderlieferung aufsammeln, aber sie wollten keine Details verraten. Ich dachte also, in Ordnung. Die beiden, die ich beobachte, sind verdammt mächtig, älter als die meisten anderen. Ich weiß, dass sie verfolgt werden. Ich kann in der Gruppe ein Monster riechen. Ich vermute, deshalb wollen sie sie jetzt unbedingt ins Camp holen. Aber dann tauchst du aus dem Nirgendwo auf. Also, bist du die Sonderlieferung?«
Der Schmerz hinter Jasons Augen tobte jetzt schlimmer denn je. Halbblute. Camp. Monster. Er wusste noch immer nicht, worüber Hedge da redete, aber diese Wörter ließen sein Gehirn geradezu erstarren – als ob es versuchte, Zugang zu Informationen zu erlangen, die da sein sollten, aber nicht da waren.
Er stolperte und Trainer Hedge fing ihn auf. Für einen so kleinen Typen hatte der Trainer stählerne Hände. »Vorsicht, Zuckerpüppchen. Du hast also dein Gedächtnis verloren, was? In Ordnung. Dann werde ich dich eben auch beschützen müssen, bis das Team eintrifft. Und danach kann der Direktor die Sache klären.«
»Welcher Direktor?«, fragte Jason. »Was für ein Camp?«
»Verhalt dich einfach unauffällig. Die Verstärkung müsste bald eintreffen. Hoffentlich passiert vorher nichts …«
Über ihnen zuckten die Blitze. Der Wind wurde zum Sturm. Arbeitsblätter flogen in den Grand Canyon und der ganze Gehsteig bebte. Die Schüler schrien, stolperten umher und klammerten sich ans Geländer.
»Ich sollte etwas sagen«, knurrte Hedge. Er brüllte in sein Megafon: »Alle ins Haus! Die Kuh sagt muuuh! Runter vom Gehsteig!«
»Haben Sie nicht gesagt, dass dieses Ding hier stabil ist?«, brüllte Jason durch den Wind.
»Unter normalen Umständen«, erwiderte Hedge. »Aber das hier sind keine. Also los!«
II
Jason
Der Sturm wurde zu einem Mini-Hurrikan. Windhosen näherten sich dem Gehsteig wie die Tentakel einer riesigen Monsterqualle.
Die Jugendlichen schrien auf und rannten auf das Museum zu. Der Wind entriss ihnen ihre Notizbücher, Jacken, Mützen und Rucksäcke. Jason rutschte über den glitschigen Boden.
Leo verlor das Gleichgewicht und wäre fast über das Geländer gefallen, aber Jason packte ihn an der Jacke und riss ihn zurück.
»Danke, Mann!,« schrie Leo.
»Los, los, los!«, rief Trainer Hedge.
Piper und Dylan hielten die Türen auf und winkten die anderen ins Haus. Pipers Fleecejacke flatterte im Wind und ihre dunklen Haare fielen ihr ins Gesicht. Jason dachte, sie müsse doch frieren, aber sie sah ruhig und zuversichtlich aus – sie sagte den anderen immer wieder, alles würde gut werden, und dirigierte sie ins Haus.
Jason, Leo und Trainer Hedge liefen auf die Türen zu, aber es war, wie durch Treibsand zu laufen. Der Wind schien mit ihnen zu kämpfen, sie zurückzustoßen.
Dylan und Piper schoben noch einen Schüler ins Haus, dann rutschten ihnen die Türen aus der Hand, knallten zu und riegelten den Gehsteig ab.
Piper riss an der Klinke. Die anderen hämmerten von drinnen gegen die Glastüren, aber die schienen sich verklemmt zu haben.
»Dylan, Hilfe!«, rief Piper.
Dylan stand mit einem idiotischen Grinsen und flatterndem Sporttrikot da, als ob er den Sturm plötzlich genoss.
»Tut mir leid, Piper«, sagte er. »Genug geholfen.«
Er machte eine Handbewegung und Piper wurde nach hinten geschleudert, knallte gegen die Türen und rutschte auf den Gehsteig.
»Piper!« Jason wollte losstürzen, aber der Wind war gegen ihn und Trainer Hedge stieß ihn zurück.
»Lassen Sie mich los!«, sagte Jason.
»Jason, Leo, bleibt hinter mir«, befahl Hedge. »Das ist mein Kampf. Ich hätte wissen müssen, dass das unser Monster ist.«
»Was?«, fragte Leo. Ein entflogenes Arbeitsblatt schlug ihm ins Gesicht, aber er wischte es beiseite. »Was für ein Monster?«
Dem Trainer wurde die Mütze vom Kopf gefegt und aus seinen Locken ragten zwei Stummel hervor – wie die Beulen, die Figuren in Comics kriegen, wenn ihnen auf den Kopf geschlagen wird. Er hob seinen Baseballschläger – aber der war kein normaler Baseballschläger mehr. Irgendwie hatte er sich in eine grobe Astkeule verwandelt, sogar Zweige und Blätter waren noch dran.
Dylan grinste ihn auf diese wahnwitzig glückliche Weise an. »Ach, kommen Sie schon, Trainer. Soll der Knabe mich doch angreifen. Sie werden sowieso langsam zu alt für so was. Sind Sie nicht deshalb in diese blöde Schule in Pension geschickt worden? Ich bin schon das ganze Schuljahr in Ihrem Team und Sie haben es nicht mal gemerkt. Sie haben Ihre Witterung verloren, Opa.«
Der Trainer stieß ein wütendes Geräusch aus, wie ein blökendes Tier. »Das reicht, Zuckerpüppchen. Du bist erledigt.«
»Glauben Sie etwa, Sie können drei Halbblute auf einmal beschützen, alter Mann?«, lachte Dylan. »Viel Glück.«
Dylan zeigte auf Leo und eine Windhose bildete sich um ihn. Leo fiel vom Gehsteig, als wäre er hinuntergestoßen worden. Irgendwie schaffte er es, sich in der Luft umzudrehen, und knallte seitwärts gegen die Wand des Canyons, glitt ab und suchte verzweifelt nach etwas, woran er sich festhalten könnte. Endlich packte er eine dünne Felskante an die fünfzehn Meter unter dem Gehsteig und hing dort an den Fingerspitzen.
»Hilfe«, schrie er nach oben. »Seil, bitte! Bungeeseil! Irgendwas!«
Trainer Hedge fluchte und warf Jason seine Keule zu. »Ich weiß nicht, wer du bist, Kleiner, aber ich hoffe, du bist gut. Halt mir dieses Ding vom Leib«, er wies mit dem Daumen auf Dylan, »und ich hole Leo.«
»Wie denn?«, fragte Jason. »Wollen Sie fliegen?«
»Nicht fliegen. Klettern.« Hedge streifte die Schuhe ab und Jason hätte fast einen Herzschlag erlitten. Der Trainer hatte keine Füße. Er hatte Hufe – Ziegenhufe. Was bedeutete, dass diese Dinger auf seinem Kopf keine Beulen waren, ging Jason auf. Sondern Hörner.
»Sie sind ein Faun«, sagte Jason.
»Ein Satyr!«, fauchte Hedge. »Faune sind römisch. Aber darüber reden wir später.«
Hedge sprang über das Geländer. Er segelte auf die Wand des Canyons zu und traf mit den Hufen auf. Dann jagte er mit unvorstellbarer Geschicklichkeit die Felswand hinab, fand Halt an Senken und Vorsprüngen, die nicht größer waren als Briefmarken, und wich Wirbelwinden aus, die ihn angriffen, während er sich auf Leo zuarbeitete.
»Ist das nicht reizend?«, Dylan wandte sich Jason zu. »Jetzt bist du an der Reihe, Junge.«
Jason warf die Keule. Das schien bei diesen starken Winden eigentlich keinen Sinn zu haben, aber sie flog genau auf Dylan zu, änderte sogar die Richtung, als er ausweichen wollte, und knallte so fest gegen seinen Kopf, dass er in die Knie ging.
Piper war nicht so benommen, wie sie aussah. Ihre Finger schlossen sich um die Keule, als die auf sie zurollte, aber ehe sie zuschlagen konnte, richtete Dylan sich auf. Blut – goldenes Blut – sickerte aus seiner Stirn.
»Netter Versuch, Junge.« Er sah Jason wütend an. »Aber du musst besser werden.«
Der Gehsteig bebte. Haarrisse zeigten sich im Glas. Im Museum hörten die anderen auf, gegen die Türen zu hämmern. Sie wichen zurück und sahen voller Entsetzen zu.
Dylans Körper löste sich in Rauch auf, als ob seine Moleküle zerfielen. Er hatte noch dasselbe Gesicht, dasselbe strahlend weiße Lächeln, aber seine ganze Gestalt bestand plötzlich aus wirbelndem schwarzen Dampf, seine Augen waren wie elektrische Funken in einer lebenden Sturmwolke. Er breitete schwarze rauchige Flügel aus. Wenn Engel auch böse sein könnten, entschied Jason, dann würden sie genau so aussehen.