»Was nicht unsere Schuld war«, fügte Leo eilig hinzu. »Hera hat sein Gedächtnis gestohlen.«
Thalias verspannte sich. »Hera? Woher weißt du das?«
Jason schilderte ihren Einsatz – die Weissagung im Camp, Heras Gefangenschaft, der Riese, der Pipers Dad in seiner Gewalt hatte, das Ende der Frist zur Wintersonnenwende. Leo schaltete sich bei den wichtigen Dingen ein: wie er den Bronzedrachen repariert hatte, dass er Feuerkugeln werfen konnte und hervorragende Tacos zubereitete.
Thalia war eine gute Zuhörerin. Nichts schien sie zu überraschen, weder die Monster noch die Weissagungen oder die Auferstehung der Toten. Aber als Jason König Midas erwähnte, fluchte sie auf Altgriechisch.
»Ich wusste ja, wir hätten seinen Palast abfackeln sollen«, sagte sie. »Dieser Mann ist eine Pest. Aber wir wollten ja unbedingt Lycaon verfolgen – na ja, ich bin auf jeden Fall froh, dass ihr entkommen seid. Und Hera hat dich also … na ja, all die Jahre lang versteckt?«
»Ich weiß nicht.« Jason zog das Foto aus der Tasche. »Sie hat mir gerade genug Erinnerung gelassen, um dein Gesicht zu erkennen.«
Thalia sah das Bild an und ihre Miene entspannte sich. »Das hatte ich ganz vergessen. Ich habe es in Hütte 1 gelassen, oder?«
Jason nickte. »Ich glaube, Hera wollte, dass wir uns treffen. Als wir hier gelandet sind, bei dieser Höhle … ich hatte das Gefühl, dass es wichtig wäre. Als ob ich wüsste, dass du in der Nähe bist. Ist das nicht verrückt?«
»Nö«, versicherte ihm Leo. »Wir mussten doch unbedingt deine scharfe Schwester treffen.«
Thalia ignorierte ihn. Vermutlich wollte sie nicht zeigen, wie sehr sie von Leo beeindruckt war.
»Jason«, sagte sie. »Wenn man mit den Göttern zu tun hat, ist nichts zu verrückt. Aber man kann Hera nicht vertrauen, schon gar nicht, wenn man ein Kind des Zeus ist. Sie hasst alle Kinder des Zeus.«
»Aber sie hat etwas darüber gesagt, dass Zeus ihr mein Leben als Friedensangebot überlassen hat. Ergibt das irgendeinen Sinn?«
Thalias Gesicht entfärbte sich. »Oh Götter. Mutter wird doch nicht … du weißt bestimmt nicht mehr – nein, natürlich nicht.«
»Was denn?«, fragte Jason.
Thalias Gesicht schien im Feuerschein zu altern, als funktioniere das mit der Unsterblichkeit doch nicht so gut. »Jason … ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Unsere Mom war nicht gerade stabil. Sie fiel Zeus ins Auge, weil sie im Fernsehen auftrat und schön war, aber sie konnte mit dem Ruhm nicht umgehen. Sie trank, baute Scheiß. Sie war dauernd in der Klatschpresse und konnte nie genug Aufmerksamkeit bekommen. Schon vor deiner Geburt haben sie und ich uns nur gestritten. Sie … sie wusste, dass Dad Zeus war, und ich glaube, das war einfach zu viel für sie. Es war anscheinend eine absolute Spitzenleistung für sie, dass sie den Herrn des Himmels verführt hatte, und sie konnte nicht hinnehmen, dass er sie verließ. Und das ist eben so bei den Göttern … die bleiben nicht.«
Leo dachte an seine eigene Mom, wie sie ihm immer wieder gesagt hatte, dass sein Dad eines Tages zurückkehren würde. Aber sie hatte deshalb nie verrückt gespielt. Sie schien Hephaistos nicht für sich zu wollen – aber Leo sollte seinen Vater kennen. Sie hatte hart arbeiten müssen, in einem winzigen Loch gelebt, nie genug Geld gehabt – und sie schien damit zufrieden gewesen zu sein. Solange sie Leo hätte, sei das Leben in Ordnung, hatte sie immer gesagt.
Er sah Jasons Gesicht an – Jason sah immer verzweifelter aus, je länger Thalia ihre Mom beschrieb – und zum ersten Mal war Leo nicht eifersüchtig auf seinen Freund. Leo hatte seine Mom verloren. Er war durch harte Zeiten gegangen. Aber er konnte sich immerhin an sie erinnern. Er ertappte sich dabei, wie er eine Morsenachricht auf seine Knie tippte. Ich liebe dich. Jason tat ihm leid, weil er keine solchen Erinnerungen hatte, nichts, worauf er zurückgreifen konnte.
»Also …« Jason schien seine Frage nicht beenden zu können.
»Jason, du hast Freunde«, sagte Leo zu ihm. »Und jetzt hast du eine Schwester. Du bist nicht allein.«
Thalia streckte die Hand aus und Jason nahm sie.
»Als ich ungefähr sieben war«, sagte sie dann, »fing Zeus wieder an, Mom zu besuchen. Ich glaube, er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er ihr Leben ruiniert hatte, und er kam mir – irgendwie anders vor. Etwas älter und strenger und väterlicher mir gegenüber. Eine Zeit lang schien es Mom besser zu gehen. Sie fand es wunderbar, wenn Zeus in der Nähe war, ihr Geschenke brachte, den Himmel grollen ließ. Sie wollte immer mehr Aufmerksamkeit. Das war das Jahr, in dem du geboren wurdest. Mom … na ja, ich bin nie gut mit ihr ausgekommen, aber du gabst mir einen Grund, noch zu bleiben. Du warst so niedlich. Und ich habe Mom nicht zugetraut, sich gut um dich zu kümmern. Natürlich stellte Zeus seine Besuche dann irgendwann wieder ein. Vermutlich konnte er Moms Forderungen nicht mehr ertragen, immer quengelte sie herum, weil sie den Olymp besuchen und er sie unsterblich oder für immer schön machen sollte. Als dann endgültig Schluss war, wurde Mom immer labiler. Das war zu der Zeit, als die Monster anfingen, mich anzugreifen. Mom machte Hera dafür verantwortlich. Sie behauptete, die Göttin habe es auch auf dich abgesehen – Hera hätte schon ein Kind nur mit Mühe hinnehmen können, aber zwei Halbgottkinder aus einer Familie seien eine zu große Beleidigung. Mom behauptete sogar, sie habe dich gar nicht Jason nennen wollen, aber Zeus habe darauf bestanden, um Hera zu besänftigen, weil der Göttin dieser Name gefiel. Ich wusste nicht, was ich glauben sollte.«
Leo spielte an seinen Kupferdrähten herum. Er kam sich vor wie ein Eindringling. Er sollte das eigentlich alles gar nicht hören, aber es gab ihm auch das Gefühl, Jason endlich kennenzulernen und auf diese Weise die vier Monate in der Wüstenschule wettzumachen, in denen Leo sich nur eingebildet hatte, mit Jason befreundet zu sein.
»Wie seid ihr denn getrennt worden?«, fragte er.
Thalia drückte die Hand ihres Bruders. »Wenn ich gewusst hätte, dass du noch lebst – bei den Göttern, alles wäre anders gekommen. Aber als du zwei warst, hat Mom uns für einen Familienausflug in den Wagen gepackt. Wir sind nach Norden gefahren, in das Weinbaugebiet, zu einem Park, den sie uns zeigen wollte. Ich weiß noch, dass ich das seltsam fand, weil Mom sonst nie etwas mit uns unternahm, und sie wirkte supernervös. Ich hielt dich an der Hand und wir gingen auf ein großes Haus mitten im Park zu und …« Sie holte zitternd Atem. »Mom sagte, ich sollte zum Auto zurücklaufen und den Picknickkorb holen. Ich wollte dich nicht mit ihr allein lassen, aber es war ja nur für ein paar Minuten. Als ich zurückkam … da kniete Mom auf der Steintreppe, hatte die Arme um sich geschlungen und weinte. Sie sagte – sie sagte, du seist verschwunden. Sie sagte, Hera habe dich geholt und du seist so gut wie tot. Ich wusste nicht, was sie getan hatte. Ich hatte Angst, sie habe vollständig den Verstand verloren. Ich bin im ganzen Park herumgerannt, um dich zu suchen, aber du warst einfach verschwunden. Sie musste mich schreiend aus dem Park schleifen. Die nächsten Tage war ich vollkommen hysterisch. Ich kann mich nicht an alles erinnern, aber ich habe die Polizei verständigt und sie haben Mom sehr lange ausgefragt. Danach haben wir uns gestritten. Sie sagte, ich hätte sie verraten, ich müsste zu ihr halten – als ob sie die Einzige wäre, die eine Rolle spielte. Am Ende konnte ich es nicht mehr ertragen. Ich lief von zu Hause weg und bin nie zurückgegangen, nicht einmal, als Mom vor ein paar Jahren gestorben ist. Ich dachte, du wärst für immer verschwunden. Ich habe niemandem von dir erzählt – nicht einmal Annabeth oder Luke, meinen beiden besten Freunden. Es tat einfach zu weh.«
»Chiron hat es gewusst.« Jasons Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. »Als ich ins Camp kam, hat er mich nur angeschaut und gesagt: ›Du müsstest tot sein.‹«
»Das kann nicht sein«, meinte Thalia. »Ich habe es ihm nie erzählt.«
»He«, sagt Leo. »Wichtig ist doch, dass ihr euch jetzt gefunden habt, oder? Da habt ihr doch Glück.«