»Na«, sagte das Mädchen. »Ich hoffe, sie lohnen die Mühe.«
Leo schnaubte. »Vielen Dank. Was sind wir, eure neuen Haustiere?«
»Also jetzt mal im Ernst«, sagte Jason. »Wie wäre es mit ein paar Antworten, ehe ihr uns aburteilt – wo sind wir, warum sind wir hier, wie lange müssen wir bleiben?«
Piper hatte dieselben Fragen, aber eine Welle der Sorge spülte über sie hinweg. Die Mühe lohnen. Wenn die von ihrem Traum wüssten … sie hatten ja keine Ahnung …
»Jason«, sagte Annabeth. »Ich verspreche dir, dass wir deine Fragen beantworten werden. Und Drew«, sie blickte das Glamourmädchen stirnrunzelnd an, »alle Halbgötter verdienen es, gerettet zu werden. Aber ich muss zugeben, dieser Ausflug hat nicht das gebracht, was ich gehofft hatte.«
»Hör mal«, sagte Piper. »Wir haben nicht darum gebeten, hergeholt zu werden.«
Drew schnaubte. »Und niemand will dich hier haben, Herzchen. Sehen deine Haare immer aus wie ein toter Dachs?«
Piper trat vor, um ihr eine zu scheuern, aber Annabeth sagte: »Piper, halt.«
Piper hielt inne. Sie hatte keine Angst vor Drew, aber Annabeth wollte sie auf keinen Fall zur Feindin haben.
»Wir müssen dafür sorgen, dass die Neuen sich willkommen fühlen«, sagte Annabeth mit einem weiteren vielsagenden Blick auf Drew. »Sie kriegen jeder einen persönlichen Betreuer, der sie durch das Camp führt. Hoffentlich werden sie heute Abend am Lagerfeuer anerkannt.«
»Könnte mir jemand verraten, was anerkennen bedeutet?«, fragte Piper.
Plötzlich schnappten alle nach Luft. Die Campinsassen wichen zurück. Zuerst glaubte Piper, etwas verbrochen zu haben. Dann sah sie, dass alle Gesichter in einem seltsamen Licht badeten, als hätte hinter ihr jemand eine Lampe eingeschaltet. Sie fuhr herum und vergaß fast das Atmen.
Über Leos Kopf schwebte ein loderndes holografisches Bild – ein feuriger Hammer.
»Das«, sagte Annabeth, »ist Anerkennen.«
»Was habe ich getan?« Leo wich zum See zurück. Dann schaute er auf und wimmerte. »Brennen meine Haare?« Er zog den Kopf ein, aber das Symbol folgte ihm, es hüpfte auf und ab und hin und her, und es sah aus, als versuche Leo, mit dem Kopf eine Flammenschrift zu verfassen.
»Das kann nicht gut sein«, murmelte Butch. »Der Fluch …«
»Butch, halt die Klappe«, sagte Annabeth. »Leo, du bist soeben anerkannt worden.«
»Von einem Gott«, fiel Jason ihr ins Wort. »Das ist das Symbol des Vulkan, oder nicht?«
Alle starrten ihn an.
»Jason«, fragte Annabeth vorsichtig, »woher weißt du das?«
»Keine Ahnung.«
»Vulkan?«, fragte Leo. »Ich fand Star Trek nicht mal gut. Worüber redet ihr hier eigentlich?«
»Vulkan ist der römische Name des Hephaistos«, sagte Annabeth. »Das ist der Gott der Schmiede und des Feuers.«
Der feurige Hammer verblasste, aber Leo schlug noch immer in die Luft, als fürchte er, der Hammer könne ihn weiter verfolgen. »Der Gott wovon? Wer?«
Annabeth drehte sich zu dem Typen mit dem Bogen um. »Will, würdest du Leo mitnehmen, ihn rumführen? Stell ihn seinen Mitbewohnern aus Hütte 9 vor.«
»Klar doch, Annabeth.«
»Was ist Hütte 9?«, fragte Leo. »Ich bin kein Vulkanier!«
»Reg dich ab, Mr. Spock, ich werde alles erklären.« Will legte ihm die Hand auf die Schulter und führte ihn zu einer der Hütten.
Annabeth sah jetzt wieder Jason an. Normalerweise konnte Piper es nicht leiden, wenn andere Mädchen ihren Freund anstarrten, aber Annabeth schien es egal zu ein, dass er so gut aussah. Sie betrachtete ihn eher wie einen komplizierten Bauplan. Endlich sagte sie: »Streck den Arm aus.«
Piper sah plötzlich, was Annabeth betrachtete, und ihre Augen weiteten sich.
Jason hatte nach seinem Bad im See seine Windjacke ausgezogen, seine Arme waren jetzt nackt und auf der Innenseite seines rechten Unterarms befand sich eine Tätowierung. Wieso hatte Piper die noch nie bemerkt? Sie hatte Jasons Arme eine Million Mal angesehen. Die Tätowierung konnte nicht einfach so aufgetaucht sein. Aber sie war dunkel und deutlich, nicht zu übersehen: ein Dutzend gerade Striche, wie ein Barcode, und darüber ein Adler mit den Buchstaben SPQR.
»Das Zeichen habe ich noch nie gesehen!«, sagte Annabeth. »Woher hast du das?«
Jason schüttelte den Kopf. »Ich habe es wirklich langsam satt, mich zu wiederholen, aber ich weiß es nicht.«
Die anderen Campbewohner drängten sich näher heran, um Jasons Tätowierung anzusehen. Das Zeichen schien sie ziemlich zu beunruhigen – fast wie eine Kriegserklärung.
»Das sieht aus wie in deine Haut eingebrannt«, stellte Annabeth fest.
»Das ist es ja auch«, sagte Jason. Dann zuckte er zusammen, als verspürte er einen plötzlichen Kopfschmerz. »Ich meine … das glaube ich. Ich weiß es nicht mehr.«
Niemand sagte etwas. Es war deutlich, dass die Campinsassen Annabeth als ihre Anführerin betrachteten. Sie warteten auf ihr Urteil.
»Er muss sofort zu Chiron«, entschied Annabeth. »Drew, würdest du …«
»Aber klar doch.« Drew schob ihren Arm unter Jasons. »Hier lang, Süßer. Ich stell dich unserem Direktor vor. Das ist … ein interessanter Typ.« Sie sah Piper triumphierend an und führte Jason auf das große blaue Haus auf der Anhöhe zu.
Die Menge strömte auseinander, und am Ende waren nur noch Annabeth und Piper übrig.
»Wer ist Chiron?«, fragte Piper. »Ist Jason irgendwie in Gefahr?«
Annabeth zögerte. »Gute Frage, Piper. Komm jetzt. Ich führe dich herum. Wir müssen reden.«
IV
Piper
Piper merkte bald, dass Annabeth nicht richtig bei der Sache war.
Sie redete über all die aufregenden Dinge, die das Camp zu bieten hatte – magisches Bogenschießen, Pegasusreiten, die Lavamauer, Kämpfe gegen Monster – aber ihr war keinerlei Begeisterung anzusehen, als sei sie in Gedanken anderswo. Sie zeigte Piper den an den Seiten offenen Speisepavillon, der auf den Long Island Sound schaute. (Ja, Long Island in New York, so weit waren sie mit dem Wagen geflogen.) Annabeth erklärte, dass Camp Half-Blood vor allem im Sommer genutzt werde, manche blieben aber das ganze Jahr dort, und in letzter Zeit seien so viele dazugekommen, dass das Camp immer überfüllt sei, sogar im Winter.
Piper hätte gern gewusst, wer das Camp leitete und woher sie erfahren hatten, dass Piper und ihre Freunde hierher gehörten. Sie fragte sich, ob sie das ganze Jahr bleiben musste und ob sie in den Sportarten gut war. Ob man sich vor den Monsterkämpfen drücken konnte? Eine Million Fragen wirbelten durch ihren Kopf, aber angesichts von Annabeths Stimmung beschloss sie, den Mund zu halten.
Als sie auf einen Hügel am Rand des Camps stiegen, drehte Piper sich um und hatte einen umwerfenden Blick über das Tal – ein breiter Waldstreifen im Nordwesten, ein wunderschöner Strand, der Bach, der See, üppige grüne Wiesen und die vielen Hütten. Letztere waren arrangiert wie ein griechisches Omega, Ω, mit einem Halbkreis aus Hütten um eine grüne Rasenfläche in der Mitte sowie zwei Flügeln an beiden Seiten. Piper zählte zwanzig Hütten. Eine leuchtete golden, eine andere silbern. Auf einem Dach wuchs Gras. Eine weitere war knallrot und hatte mit Stacheldraht bespannte Schützengräben. Eine Hütte war schwarz und vor dem Eingang loderten grüne Fackeln.
Und all das wirkte wie eine ganz andere Welt als die verschneiten Hütten und Wiesen draußen.