Er war dermaßen in Gedanken versunken, dass er nicht bemerkte, dass die Jägerinnen stehengeblieben waren. Er knallte gegen Thalia und fast wären sie beide den Hang hinabgestürzt. Zum Glück stand die Jägerin sicher auf ihren Füßen, sie hielt ihn fest und zeigte dann nach oben.
»Das«, sagte Leo mit erstickter Stimme, »ist ein ganz schön großer Felsen.«
Sie waren fast am Gipfel des Pikes Peak. Unter ihnen war die Welt in Wolken gehüllt. Die Luft war so dünn, dass Leo kaum atmen konnte. Es war jetzt Abend, aber der Vollmond schien und die Sterne waren unglaublich. Im Norden und Süden ragten weitere Berggipfel aus den Wolken heraus wie Inseln – oder Zähne.
Aber die eigentliche Sensation spielte sich über ihnen ab. Ungefähr eine Viertelmeile entfernt hing eine gewaltige frei schwebende Insel aus leuchtendem lila Gestein in der Luft. Es war schwer, ihre Größe einzuschätzen, aber Leo nahm an, dass sie mindestens so breit und hoch wie ein Fußballstadion sein musste. Die Seiten waren aus zerklüfteten Felsen, durchlöchert von Höhlen, und ab und zu brach mit einem Orgelton ein Windstoß heraus. Oben auf dem Felsen umgaben Bronzemauern eine Art Festung.
Das Einzige, was den Pikes Peak mit der fliegenden Insel verband, war eine schmale Eisbrücke, die im Mondlicht glitzerte.
Und dann ging Leo auf, dass die Brücke doch nicht aus Eis war, denn sie war nicht massiv. Wenn die Winde ihre Richtung änderten, bewegte ich die Brücke ebenfalls – sie verschwamm und wurde schmaler und löste sich an manchen Stellen sogar zu einer gepunkteten Linie auf, wie der Kondensstreifen eines Flugzeugs.
»Da müssen wir doch wohl nicht rübergehen«, sagte Leo.
Thalia zuckte mit den Schultern. »Ich gebe ja zu, ich schwärme auch nicht gerade für Höhen. Aber wenn ihr die Festung des Aeolus besuchen wollt, dann ist das der einzige Weg.«
»Ist die Festung immer da?«, fragte Piper. »Und wieso fällt das niemandem auf, dass sie über dem Pikes Peak herumhängt?«
»Das ist der Nebel«, sagte Thalia. »Aber die Sterblichen bemerken sie auf indirekte Weise. Sie reden dann von einer Täuschung durch das Licht, aber in Wirklichkeit wird die Farbe von Aeolus’ Palast vom Gestein des Berges reflektiert.«
»Die ist ja riesig«, sagte Jason.
Thalia lachte. »Da solltest du mal den Olymp sehen, Brüderchen.«
»Wirklich? Warst du mal da?«
Thalia schnitt eine Grimasse, als sei das keine schöne Erinnerung. »Wir sollten in zwei Gruppen rübergehen. Die Brücke trägt nicht viel.«
»Wie beruhigend«, sagte Leo. »Jason, kannst du uns nicht einfach hochfliegen?«
Thalia lachte. Dann schien ihr aufzugehen, dass Leo seine Frage nicht als Witz gemeint hatte. »Moment mal … Jason, du kannst fliegen?«
Jason starrte zur schwebenden Festung hoch. »Na ja, irgendwie schon. Es ist eher so, dass ich die Winde lenken kann. Aber die Winde da oben sind so stark, ich bin nicht sicher, ob ich das versuchen möchte. Thalia, soll das heißen … du kannst nicht fliegen?«
Für einen Moment sah Thalia wirklich ängstlich aus. Dann brachte sie ihre Miene wieder unter Kontrolle. Leo wurde klar, dass ihre Höhenangst größer war, als sie zugeben mochte.
»Ehrlich gesagt«, sagte sie, »habe ich es nie versucht. Aber vielleicht halten wir uns doch besser an die Brücke.«
Trainer Hedge tippte den Kondensstreifen aus Eis mit dem Huf an, dann sprang er auf die Brücke. Erstaunlicherweise trug sie sein Gewicht. »Kein Problem. Ich gehe voraus. Piper, komm schon, ich helfe dir.«
»Nein, geht schon«, wollte Piper sagen, aber der Trainer packte ihre Hand und zog sie auf die Brücke.
Als sie ungefähr die Hälfte geschafft hatte, schien die Brücke sie noch immer problemlos zu tragen.
Thalia drehte sich zu der anderen Jägerin um. »Phoebe, ich bin bald wieder da. Geh zu den anderen. Sag ihnen, dass ich unterwegs bin.«
»Sicher?« Phoebe musterte Leo und Jason aus zusammengekniffenen Augen, als wollten sie Thalia entführen oder so.
»Ist schon gut«, versprach Thalia.
Phoebe nickte widerstrebend, dann lief sie den Bergpfad hinunter, dicht gefolgt von den weißen Wölfinnen.
»Jason, Leo, passt auf, wo ihr hintretet«, sagte Thalia. »Eigentlich bricht sie so gut wie nie.«
»Die kennt mich ja auch noch nicht«, murmelte Leo, aber er und Jason betraten die Brücke.
Auf halber Strecke ging die Sache schief, und natürlich war Leo daran schuld. Piper und Hedge waren schon unversehrt oben angekommen und winkten ihnen zu, um sie zum Weiterklettern zu ermutigen, aber Leo ließ sich ablenken. Er dachte an Brücken – dass er etwas viel Stabileres als dieses wechselhafte Eis-Rauch-Ding entwerfen würde, wenn das hier sein Palast wäre. Er dachte über Streben und Tragsäulen nach. Dann ließ eine plötzliche Erkenntnis ihn jählings anhalten.
»Wieso haben die überhaupt eine Brücke?«, fragte er.
Thalia runzelte die Stirn. »Leo, das hier ist kein guter Ort für eine Pause. Wie meinst du das?«
»Das sind doch Windgeister«, sagte Leo. »Können die nicht fliegen?«
»Doch, aber manchmal brauchen sie eine Kontaktmöglichkeit zur Welt da unten.«
»Die Brücke ist also nicht immer hier?«, fragte Leo.
Thalia schüttelte den Kopf. »Die Windgeister ankern nicht gern auf der Erde, aber manchmal muss es eben sein. So wie jetzt. Sie wissen, dass ihr kommt.«
Leos Gedanken rasten. Er war so aufgeregt, er spürte fast, wie seine Körpertemperatur stieg. Er konnte seine Gedanken nicht so ganz in Worte fassen, aber er wusste, er war auf etwas Wichtiges gestoßen.
»Leo?«, fragte Jason. »Was denkst du?«
»Bei den Göttern!«, sagte Thalia. »Weiter! Seht eure Füße an.«
Leo trottete rückwärts. Voller Entsetzen ging ihm auf, dass seine Körpertemperatur stieg, wie damals am Picknicktisch unter dem Pecanbaum, als sein Temperament mit ihm durchgegangen war. Jetzt verursachte seine Aufregung dieselbe Reaktion. Seine Hose dampfte in der kalten Luft. Seine Schuhe rauchten buchstäblich, und das gefiel der Brücke überhaupt nicht. Das Eis wurde dünner.
»Leo, hör auf«, bat Jason. »Du wirst sie noch schmelzen.«
»Ich versuch’s ja«, sagte Leo. Aber sein Körper wurde von selbst immer heißer, je schneller sich seine Gedanken drehten. »Hör mal, Jason, wie hat Hera dich in diesem Traum genannt? Sie hat dich als Brücke bezeichnet.«
»Leo, wirklich, du musst dich abkühlen«, sagte Thalia. »Ich weiß nicht, wovon du redest, aber die Brücke ist …«
»Hört doch kurz zu«, beharrte Leo. »Wenn Jason eine Brücke ist, was verbindet er dann? Vielleicht zwei Orte, die sich normalerweise nicht vertragen – wie der Luftpalast und der Boden. Du musst doch irgendwo gewesen sein, ehe du hergekommen bist, oder? Und Hera hat dich als Austausch bezeichnet.«
»Als Austausch?« Thalias Augen wurden größer. »Bei den Göttern.«
Jason runzelte die Stirn. »Worüber redet ihr hier eigentlich?«
Thalia murmelte so etwas wie ein Gebet. »Jetzt weiß ich, warum Artemis mich hergeschickt hat. Jason – sie hat mir gesagt, ich sollte Lycaon jagen, dann würde ich einen Hinweis auf Percy finden. Und dieser Hinweis bist du. Artemis wollte, dass wir uns begegnen, damit ich deine Geschichte erfahre.«
»Ich verstehe das nicht«, sagte Jason. »Ich habe keine Geschichte. Ich kann mich doch an nichts erinnern.«
»Aber Leo hat Recht«, sagte Thalia. »Das alles hängt zusammen. Wenn wir nur wüssten, wo …«
Leo schnippte mit den Fingern. »Jason, wie hast du diesen Ort in deinem Traum genannt? Das zerfallene Haus. Das Wolfshaus?«
Thalia keuchte auf. »Das Wolfshaus? Jason, warum hast du das nicht gesagt? Da halten sie Hera fest?«
»Du weißt, wo das ist?«, fragte Jason.