Und dann löste die Brücke sich auf. Leo wäre glatt zu Tode gestürzt, aber Jason packte ihn am Mantel. Die beiden zogen sich wieder auf die Brücke, und als sie sich umdrehten, stand Thalia auf der anderen Seite eines zehn Meter breiten Abgrundes. Die Brücke schmolz immer weiter.
»Geht!«, brüllte Thalia und wich über die zerbröckelnde Brücke zurück. »Findet heraus, wo der Riese Pipers Dad festhält! Rettet ihn! Ich gehe mit den Jägerinnen zum Wolfshaus und halte die Stellung, bis ihr kommt. Wir schaffen beides!«
»Aber wo ist das Wolfshaus?«, rief Jason zurück.
»Du weißt, wo es ist, Brüderchen!« Sie war jetzt so weit weg, dass sie ihre Stimme durch den Wind kaum hören konnten. Leo war ziemlich sicher, dass sie sagte: »Wir sehen uns dort. Versprochen!«
Dann drehte sie sich um und rannte die sich auflösende Brücke hinab.
Leo und Jason durften nicht stehenbleiben. Sie kletterten um ihr Leben und der Eisstreifen unter ihren Füßen wurde immer dünner. Mehrmals packte Jason Leo und nutzte die Winde, um sie oben zu halten, aber das Ganze war eher wie Bungeespringen als wie Fliegen.
Als sie die schwebende Insel erreicht hatten, zogen Piper und Trainer Hedge sie an Land, während die letzten Reste der Brücke aus Reif verschwanden. Sie standen um Atem ringend vor einer steinernen Treppe, die in den Felshang gehauen war und zur Festung hochführte.
Leo schaute nach unten. Der Gipfel des Pikes Peak schwamm unter ihnen in einem Meer aus Wolken, von Thalia aber war nichts mehr zu sehen. Und Leo hatte soeben ihren einzigen Weg zurück geschmolzen.
»Was ist passiert?«, fragte Piper. »Leo, warum dampfen deine Klamotten?«
»Mir ist ein wenig warm geworden«, keuchte er. »Tut mir leid, Jason. Echt. Ich wollte nicht …«
»Ist schon gut«, sagte Jason, aber seine Miene war düster. »Wir haben weniger als vierundzwanzig Stunden, um eine Göttin und Pipers Dad zu retten. Also sehen wir uns mal diesen König der Winde an.«
XXXVII
Jason
Innerhalb weniger als einer Stunde hatte Jason seine Schwester gefunden und wieder verloren. Als sie über die Felsen der schwebenden Insel kletterten, schaute er sich immer wieder um, aber Thalia war verschwunden.
Trotz allem, was sie über ihr Wiedersehen gesagt hatte, hatte Jason seine Zweifel. Sie hatte bei den Jägerinnen eine neue Familie und in Artemis eine neue Mutter gefunden. Sie wirkte so zufrieden und zuversichtlich in ihrem Leben, und Jason war nicht sicher, ob er jemals ein Teil davon sein könnte. Und sie schien so versessen darauf, ihren Freund Percy zu finden. Hatte sie jemals so intensiv nach Jason gesucht?
Das ist unfair, sagte er sich. Sie hat dich doch für tot gehalten.
Was sie über ihre Mutter gesagt hatte, konnte er kaum ertragen. Es war, als hätte Thalia ihm ein Baby gereicht – ein wirklich lautes, hässliches Baby – und gesagt, hier, das gehört dir. Trag es. Er wollte es nicht tragen. Er wollte es nicht ansehen und nichts damit zu tun haben. Er wollte nicht wissen, dass er eine labile Mutter gehabt hatte, die ihn aufgegeben hatte, um eine Göttin friedlich zu stimmen. Kein Wunder, dass Thalia weggelaufen war.
Dann dachte er an die Zeus-Hütte im Camp Half-Blood – diesen winzigen Alkoven, in dem Thalia übernachtet hatte, außer Sichtweite der wütend dreinschauenden Statue des Himmelsgottes. Ihr Dad war wirklich nicht das Gelbe vom Ei. Jason konnte verstehen, warum Thalia sich auch von diesem Teil ihres Lebens abgewandt hatte, aber er war noch immer sauer. Er hatte nicht solches Glück. Ihm fiel die schwerere Last zu – im wahrsten Sinne des Wortes.
Der goldene Rucksack mit den Winden drückte auf seine Schultern. Je weiter sie sich dem Palast des Aeolus näherten, umso schwerer wurde der Rucksack. Die Winde kämpften, sie polterten und schlugen um sich.
Der Einzige, der guter Laune zu sein schien, war Trainer Hedge. Er hüpfte die glitschige Treppe voraus und sprang wieder herunter. »Na los, Zuckerpüppchen! Nur noch ein paar Tausend Stufen!«
Beim Klettern überließen Leo und Piper Jason seinem Schweigen. Vielleicht spürten sie seine miese Stimmung. Piper sah sich immer wieder besorgt um, als sei er derjenige, der fast an einer Unterkühlung gestorben wäre. Oder vielleicht dachte sie auch an Thalias Vorschlag. Sie hatten ihr erzählt, was Thalia auf der Brücke gesagt hatte, darüber, dass sie Pipers Dad und Hera beide retten könnten –, aber Jason wusste nicht, wie sie das schaffen sollten, und er war nicht sicher, ob die Möglichkeit Piper größere Hoffnung gegeben oder sie nur ängstlicher gemacht hatte.
Leo tastete immer wieder seine Beine ab und suchte nach Anzeichen dafür, dass seine Hose brannte. Er dampfte nicht mehr, aber der Zwischenfall auf der Brücke hatte Jason wirklich fertiggemacht. Leo schien nicht bemerkt zu haben, dass ihm Rauch aus den Ohren gequollen war und Flammen in seinen Haaren getanzt hatten. Wenn Leo jedes Mal, wenn er sich aufregte, eine Selbstzündung hinlegte, würde es schwer sein, mit ihm irgendwo hinzugehen. Jason stellte sich vor, wie sie versuchten, in einem Restaurant Essen zu bestellen. Ich hätte gern einen Cheeseburger und … uääähhh! Mein Freund brennt! Bringen Sie mir einen Eimer Wasser!
Vor allem aber machte Jason sich Sorgen darüber, was Leo gesagt hatte. Jason wollte keine Brücke sein oder ein Austausch oder was auch immer. Er wollte nur wissen, woher er gekommen war. Und Thalia hatte so entnervt ausgesehen, als Leo das ausgebrannte Haus aus seinen Träumen erwähnt hatte – den Ort, von dem Lupa ihm gesagt hatte, er sei sein Ausgangspunkt. Woher kannte Thalia dieses Haus und wieso ging sie davon aus, dass Jason es finden würde? Die Antwort schien nahezuliegen, aber je näher Jason ihr kam, umso widerspenstiger wurde sie, wie die Winde auf seinem Rücken.
Endlich erreichten sie den Gipfel der Insel. Bronzemauern zogen sich um die gesamte Festung, auch wenn Jason sich nicht vorstellen konnte, wer diesen Ort angreifen sollte. Sieben Meter hohe Tore öffneten sich für sie und eine Straße aus polierten lila Steinen führte zur Hauptzitadelle, einem runden Bau mit weißen Säulen im griechischen Stil, wie die Monumente in Washington D. C. – abgesehen von dem Gewirr aus Satellitenschüsseln und Funktürmen auf dem Dach.
»Da ist ja bizarr«, sagte Piper.
»Vermutlich kann man auf einer schwebenden Insel keine Kabel legen«, sagte Leo. »Verflixt, seht euch mal den Vorgarten von dem Typen an.«
Der Rundbau befand sich mitten in einem Kreis von 400 Metern Durchmesser. Der Platz war auf unheimliche Weise beeindruckend. Es gab vier Bereiche, wie Pizzastücke, und jeder stellte eine Jahreszeit dar.
Der Bereich zu ihrer Rechten war eine Eiswüste, mit kahlen Bäumen und einem gefrorenen See. Schneemänner kullerten durch die Gegend, als der Wind stärker wurde, und Jason war nicht sicher, ob sie Dekoration oder lebendig waren. Auf ihrer Linken gab es einen Herbstpark mit goldenen und roten Bäumen. Blätterhaufen wurden zu Mustern geweht – Götter, Menschen, Tiere, die einander jagten, ehe sie wieder zu Blätterhaufen wurden.
In der Ferne konnte Jason hinter dem Rundbau noch zwei Bereiche sehen. Der eine sah aus wie eine grüne Weide mit Schafen, die aus Wolken gemacht waren. Der letzte Bereich war eine Wüste, wo Steppenläufer seltsame Muster in den Sand kratzten: griechische Buchstaben, Smileys und eine riesige Werbeanzeige mit dem Text: Jeden Abend Aeolus einschalten!
»Einen Bereich für jeden der vier Windgötter«, vermutete Jason. »Die vier Hauptwindrichtungen.«
»Diese Weide sieht wirklich gut aus.« Trainer Hedge leckte sich die Lippen. »Habt ihr was dagegen …«
»Keine Spur«, sagte Jason. Er war sogar erleichtert darüber, den Satyrn loszuwerden. Es würde so schon schwer genug sein, Aeolus gnädig zu stimmen, auch ohne dass Trainer Hedge seine Keule schwenkte und »Stirb!« schrie.
Während der Satyr davonrannte, um den Frühling anzugreifen, gingen Jason, Leo und Piper die Straße entlang zur Treppe vor dem Palast. Sie passierten die Eingangstüren und gelangten in eine weiße Eingangshalle aus Marmor, dekoriert mit lila Bannern mit der Aufschrift OLYMPISCHER WETTERSENDER und anderen, auf denen nur OW! stand.