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»Nein, Liebes«, sagte eine honigsüße Frauenstimme. »Keine Strafe.«

Piper drehte sich um und fürchtete, Medea zu sehen, aber vor ihr stand eine andere Frau, die den Ständer mit Waren zum halben Preis durchsuchte.

Die Frau sah großartig aus – schulterlanges Haar, schlanker Hals, perfekte Züge und eine umwerfende Figur in Jeans und einem schneeweißen Top.

Piper hatte schon eine Menge Schauspielerinnen gesehen – die meisten, mit denen ihr Dad ausging, waren hinreißend schön –, aber diese hier war anders. Sie war elegant, ohne sich Mühe zu geben, ganz von selbst modisch, umwerfend ohne Schminke. Nachdem sie Aeolus mit seinem albernen geschminkten und gelifteten Gesicht gesehen hatte, fand Piper diese Frau noch hinreißender. Sie hatte überhaupt nichts Künstliches an sich.

Aber dann änderte sich vor Pipers Augen das Aussehen der Frau. Piper konnte die Farbe ihrer Augen oder ihre genaue Haarfarbe nicht erkennen. Die Frau wurde immer schöner, als passe ihr Bild sich Pipers Gedanken an – als wolle es Pipers Schönheitsideal so nahe wie möglich kommen.

»Aphrodite«, sagte Piper. »Mom?«

Die Göttin lächelte. »Das ist nur ein Traum, Süße. Falls jemand fragt, dann war ich nicht hier. Okay?«

»Ich …« Piper wollte tausend Fragen stellen, aber sie wirbelten in ihrem Kopf wild durcheinander.

Aphrodite hob ein türkises Kleid hoch. Piper fand es fantastisch schön, aber die Göttin verzog das Gesicht. »Eigentlich ist das nicht meine Farbe, oder? Schade, es ist ein hübsches Kleid. Medea hat hier wirklich ein paar schöne Sachen.«

»Dieses – dieses Gebäude ist explodiert«, stammelte Piper. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«

»Ja«, sagte Aphrodite zustimmend. »Ich nehme an, deshalb ist alles so billig. Ist jetzt nur noch eine Erinnerung. Und es tut mir leid, dass ich dich aus deinem anderen Traum gezerrt habe. Der war viel angenehmer, das weiß ich.«

Pipers Gesicht brannte. Sie wusste nicht, ob sie wütend oder verlegen war, aber sie fühlte sich hohl vor Enttäuschung. »Das war nicht echt. Es ist nie passiert. Warum erinnere ich mich dann so lebhaft daran?«

Aphrodite lächelte. »Weil du meine Tochter bist, Piper. Du kannst Möglichkeiten spüren. Du siehst das, was sein könnte. Und es könnte auch noch so kommen – gib nicht auf. Nur leider …« Die Göttin zeigte auf die Waren um sie. »Du musst erst noch andere Prüfungen bestehen. Medea wird zurückkehren, zusammen mit vielen anderen Feinden. Die Pforten des Todes haben sich geöffnet.«

»Wie meinst du das?«

Aphrodite zwinkerte ihr zu. »Du bist doch intelligent, Piper. Du weißt es.«

Ein Schauer durchlief sie. »Die schlafende Frau, die Medea und Midas als ihre Beschützerin bezeichnen. Sie hat einen neuen Ausgang aus der Unterwelt öffnen können. Sie lässt die Toten in die Welt entfliehen.«

»Mmm. Und nicht einfach irgendwelche Toten. Sondern die schlimmsten, die mächtigsten, die, die die Götter vermutlich am allermeisten hassen.«

»Auf diesem Weg kehren die Monster aus dem Tartarus zurück«, vermutete Piper. »Deshalb bleiben sie nicht aufgelöst.«

»Genau. Ihre Beschützerin, wie du sie nennst, hat eine besondere Beziehung zu Tartarus.« Aphrodite hielt ein goldenes, mit Pailletten besetztes Top hoch. »Nein … darin würde ich albern aussehen.«

Piper lachte nervös. »Du? Du siehst doch immer perfekt aus.«

»Du bist süß«, sagte Aphrodite. »Aber bei Schönheit geht es darum, das zu finden, was am besten passt, was am natürlichsten wirkt. Um perfekt zu sein, musst du dich perfekt fühlen – du darfst nicht versuchen, etwas zu sein, das du nicht bist. Für eine Göttin ist das besonders schwer. Wir können uns so leicht verändern.«

»Für meinen Dad warst du perfekt.« Pipers Stimme zitterte. »Er ist nie über dich hinweggekommen.«

Aphrodite schaute in die Ferne. »Ja … Tristan. Ach, der war umwerfend. So lieb und freundlich, lustig und gut aussehend. Und doch hatte er so viel Traurigkeit in sich.«

»Könnten wir bitte nicht in der Vergangenheit über ihn sprechen?«

»Tut mir leid, Liebes. Ich wollte deinen Vater natürlich gar nicht verlassen. Es ist immer so schwer, aber es war besser so. Wenn ihm aufgegangen wäre, wer ich wirklich war …«

»Moment – er wusste gar nicht, dass du eine Göttin bist?«

»Natürlich nicht.« Aphrodite klang beleidigt. »Das hätte ich ihm nicht angetan. Die meisten Sterblichen können das einfach nicht akzeptieren. Es kann ihr ganzes Leben zerstören. Frag deinen Freund Jason – reizender Junge übrigens. Für seine Mutter war es das Ende, festzustellen, dass sie sich in Zeus verliebt hatte. Nein, es war besser, dass Tristan mich für eine Sterbliche hielt, die ihn ohne Erklärung verlassen hat. Eine bittersüße Erinnerung ist immer noch besser als eine unerreichbare unsterbliche Göttin. Und das bringt mich zu einem anderen wichtigen Thema.«

Sie öffnete die Hand und zeigte Piper eine leuchtende Glasflasche mit einer rosa Flüssigkeit. »Das ist eine von Medeas netteren Mixturen. Sie löscht nur die neusten Erinnerungen aus. Wenn du deinen Vater gerettet hast – falls dir das gelingt –, solltest du ihm das hier geben.«

Piper wollte ihren Ohren nicht trauen. »Ich soll meinem Dad Drogen geben? Ich soll dafür sorgen, dass er vergisst, was er durchgemacht hat?«

Aphrodite hielt die Phiole hoch. Die Flüssigkeit tunkte ihr Gesicht in ein rosa Licht. »Dein Vater spielt den Selbtbewussten, Piper, aber er balanciert auf einem schmalen Grad zwischen zwei Welten. Er versucht schon sein ganzes Leben, die alten Geschichten über Götter und Geister zu verleugnen, aber er hat noch immer Angst, dass diese Geschichten die Wahrheit sein könnten. Er hat Angst, dass er einen wichtigen Teil von sich abgeschrieben hat und dass ihn das eines Tages zerstören wird. Jetzt wird er von einem Riesen gefangen gehalten. Es ist wie ein Albtraum. Selbst wenn er überlebt … wenn er den Rest seines Lebens mit diesen Erinnerungen leben muss, in dem Wissen, dass Götter und Geister auf der Erde umgehen, wird ihn das zerbrechen. Und darauf hofft unsere Feindin. Sie will ihn zerstören und damit auch dir deine Kraft nehmen.«

Piper hätte gern geschrien, Aphrodite habe Unrecht, ihr Dad sei der stärkste Mensch, den sie kannte. Piper würde ihm seine Erinnerungen niemals wegnehmen, so, wie Hera Jasons gestohlen hatte.

Aber aus irgendeinem Grund konnte sie Aphrodite nicht lange böse sein. Ihr fiel ein, was ihr Dad vor Monaten am Strand von Big Sur gesagt hatte: »Wenn ich wirklich an das Geisterland glaubte oder an Tiergeister oder griechische Götter … ich glaube, dann könnte ich nachts nicht schlafen. Ich würde immer jemanden suchen, dem ich die Schuld geben kann.«

Jetzt suchte auch Piper jemanden, dem sie die Schuld geben konnte.

»Wer ist sie?«, fragte Piper. »Die Herrin der Riesen?«

Aphrodite spitzte die Lippen. Sie ging zum nächsten Tisch, auf dem zerbeulte Rüstungsteile und zerfetzte Togen lagen, aber Aphrodite musterte sie wie Designerkleidung.

»Du hast einen starken Willen«, sagte sie nachdenklich. »Ich galt nie viel unter den Göttern. Meine Kinder werden ausgelacht. Sie werden als eingebildet und oberflächlich abgetan.«

»Einige sind das ja auch.«

Aphrodite lachte. »Zugegeben. Vielleicht bin ich auch manchmal eingebildet und oberflächlich. Ein Mädchen muss sich auch mal etwas Gutes gönnen. Ach, das hier ist hübsch.« Sie hob einen verbrannten und verschmutzten bronzenen Brustpanzer hoch und hielt ihn Piper hin. »Oder?«

»Nein«, sagte Piper. »Beantwortest du mir meine Frage?«

»Geduld, meine Süße«, sagte die Göttin. »Es geht mir darum, dass Liebe die allergrößte Motivation auf der Welt ist. Sie spornt Sterbliche zu Größe an. Ihre edelsten, tapfersten Taten geschehen aus Liebe.«

Piper zog ihren Dolch und musterte seine Spiegelklinge. »Wie Helena, als sie den Trojanischen Krieg ausgelöst hat?«

»Ach, Katoptris.« Aphrodite lächelte. »Schön, dass du ihn gefunden hast. Ich werde wegen dieses Krieges so oft unter Beschuss genommen, aber im Ernst, Paris und Helena waren ein wunderbares Paar. Und die Helden dieses Krieges sind jetzt unsterblich – jedenfalls in der Erinnerung der Menschen. Liebe ist sehr mächtig, Piper. Sie kann sogar Götter in die Knie zwingen. Das habe ich auch meinem Sohn Aeneas gesagt, als er aus Troja entkommen war. Er glaubte, versagt zu haben. Er hielt sich für einen Verlierer. Aber dann reiste er nach Italien …«