Leo versetzte ihm einen Rippenstoß. »Sie werden ihn nicht allein angreifen!«
»Ach, komm schon!«
Piper unterdrückte ein Schluchzen. »Seht doch!«
Auf der anderen Seite des Feuers war gerade so eben ein an einen Pfahl gefesselter Mann zu erkennen. Sein Kopf hing herunter, als wäre er bewusstlos, deshalb konnte Leo sein Gesicht nicht erkennen, aber Piper schien keinen Zweifel zu haben.
»Dad«, sagte sie.
Leo schluckte. Er wünschte, dies wäre ein Tristan-McLean-Film. Dann würde Pipers Dad die Bewusstlosigkeit nur vortäuschen. Er würde seine Fesseln abwerfen und den Riesen mit einem geschickt versteckten Anti-Riesen-Gas bezwingen. Heroische Musik würde erklingen und Tristan McLean würde einen umwerfenden Abgang hinlegen und in Zeitlupe davonrennen, während hinter ihm der Berg explodierte.
Aber das hier war kein Film. Tristan McLean war halb tot und würde bald gefressen werden. Und die Einzigen, die das verhindern konnten, waren drei modisch gekleidete junge Halbgötter und eine größenwahnsinnige Ziege.
»Wir sind zu viert«, flüsterte Hedge eindringlich. »Und er ist allein.«
»Haben Sie die Tatsache übersehen, dass er zehn Meter groß ist?«, fragte Leo.
»Okay«, sagte Hedge. »Du, ich und Jason lenken ihn ab. Piper schleicht sich auf die andere Seite des Feuers und befreit ihren Dad.«
Alle sahen Jason an.
»Was ist los?«, fragte Jason. »Ich bin hier nicht der Anführer.«
»Doch«, sagte Piper. »Bist du.«
Sie hatten eigentlich niemals darüber geredet, aber niemand widersprach, nicht einmal Hedge. Dass sie hierhergelangt waren, war der ganzen Gruppe zu verdanken. Aber wenn es um Entscheidungen über Leben und Tod ging, dann wusste Leo, dass sie Jason fragen mussten. Obwohl er sein Gedächtnis verloren hatte, besaß Jason eine Art Gleichgewicht. Man konnte ihm einfach ansehen, dass er schon ganz andere Schlachten mitgemacht hatte und dass er wusste, wie man die Ruhe bewahrt. Leo war nicht gerade vertrauensselig, aber Jason hätte er sein Leben anvertraut.
»Ich sag das ja nur ungern«, sagte Jason und seufzte. »Aber Trainer Hedge hat Recht. Eine Ablenkung ist Pipers größte Chance.«
Keine richtig gute Chance, dachte Leo. Nicht einmal eine überlebbare Chance. Aber eben ihre größte Chance.
Sie konnten aber nicht den ganzen Tag hier sitzenbleiben und darüber reden. Es ging auf Mittag zu – dem Ende der vom Riesen gesetzten Frist – und der Boden versuchte noch immer, sie nach unten zu ziehen. Leos Knie waren schon mehrere Zentimeter im Schlamm versunken.
Leo sah sich die Baugeräte an und hatte eine wahnwitzige Idee. Er zog das kleine Spielzeug hervor, das er beim Wandern angefertigt hatte, und ihm ging auf, wofür es gut sein könnte – wenn er Glück hätte, was aber fast nie der Fall war.
»Dann mal auf sie mit Gebrüll«, sagte er. »Ehe ich zur Vernunft komme.«
XLII
Leo
Die Sache ging fast sofort schief. Piper kletterte über die Felswand und versuchte, den Kopf einzuziehen, während Leo, Jason und Trainer Hedge ganz offen auf die Lichtung spazierten.
Jason beschwor seine goldene Lanze herauf. Er schwenkte sie über dem Kopf und schrie: »Riese!« Was sich ziemlich gut anhörte und viel zuversichtlicher, als Leo es geschafft hätte. Der dachte eher so etwas wie: Wir sind jämmerliche Ameisen! Lass uns bitte am Leben!
Enceladus hörte auf, die Flammen zu beschwören. Er drehte sich zu ihnen um und grinste, und dabei zeigte er Hauzähne wie ein Säbelzahntiger.
»Sieh an«, dröhnte der Riese. »Was für eine reizende Überraschung.«
Leo hörte das gar nicht gern. Seine Hand schloss sich um seine Aufziehfigur. Er trat zur Seite und näherte sich vorsichtig dem Bulldozer.
Trainer Hedge brüllte: »Lass den Filmstar frei, du mieses Riesen-Zuckerpüppchen! Oder ich schieb dir meinen Huf voll in den …«
»Trainer«, sagte Jason. »Klappe halten.«
Enceladus brüllte vor Lachen. »Ich hatte total vergessen, wie komisch Satyrn doch sind. Wenn wir die Welt beherrschen, werden wir euch behalten. Du kannst mich unterhalten, während ich die anderen Sterblichen verspeise.«
»Soll das ein Kompliment sein?« Hedge sah Leo stirnrunzelnd an. »Ich glaube nicht, dass das ein Kompliment war.«
Enceladus riss den Mund sperrangelweit auf und seine Zähne fingen an zu glühen.
»Auseinander!«, schrie Leo.
Jason und Hedge ließen sich nach links fallen, als der Riese Feuer spie – einen so heißen Flammenstoß, dass sogar Festus neidisch gewesen wäre. Leo duckte sich hinter den Bulldozer, zog sein selbst gemachtes Gerät auf und ließ es auf den Fahrersitz fallen. Dann rannte er nach rechts, auf die Holzernte-Maschine zu.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Jason sich aufrappelte und den Riesen angriff. Trainer Hedge riss sich die brennende kanariengelbe Jacke vom Leib und blökte wütend. »Der Anzug hat mir gefallen!« Dann hob er die Keule und ging ebenfalls zum Angriff über.
Ehe sie sehr weit gekommen waren, knallte Enceladus seinen Speer auf die Erde. Der ganze Berg bebte.
Die Schockwelle warf Leo zu Boden. Er blinzelte und war für einen Moment wie betäubt. Durch den Dunst aus brennendem Gras und bitterem Rauch sah er, wie Jason auf der anderen Seite der Lichtung mühsam auf die Füße kam. Trainer Hedge war bewusstlos. Er war vornübergekippt und mit dem Kopf auf einen Baumstumpf geknallt. Sein bepelztes Hinterteil ragte geradewegs nach oben und die kanariengelbe Hose hing um seine Knie – den Anblick hatte Leo wirklich nicht gebraucht.
Der Riese brüllte: »Ich sehe dich, Piper McLean!« Er machte kehrt und spie Feuer auf die Büsche zu Leos Rechten. Piper rannte wie eine gehetzte Wachtel auf die Lichtung, während das Unterholz hinter ihr brannte. Enceladus lachte. »Ich bin so froh, dass du endlich da bist. Und du hast meine Belohnung mitgebracht.«
Leos Innereien verkrampften sich. Das war der Moment, vor dem Piper sie gewarnt hatte. Sie waren mitten in Enceladus’ Falle getappt.
Der Riese hatte Leos Gedanken offenbar durchschaut, denn er lachte noch lauter. »Genau, Sohn des Hephaistos. Ich hatte nicht erwartet, dass ihr alle so lange am Leben bleiben würdet, aber das spielt keine Rolle. Piper McLean hat euch hergeführt und damit unseren Handel besiegelt. Wenn sie euch verrät, dann werde ich zu meinem Wort stehen. Sie kann ihren Vater mitnehmen und gehen. Was schert mich so ein Filmstar?«
Leo konnte Pipers Dad jetzt deutlicher sehen. Tristan McLean trug ein zerfetztes Hemd und eine zerrissene Hose. Seine nackten Füße waren lehmverkrustet. Er war nicht ganz bewusstlos, denn er hob den Kopf und stöhnte – ja, es war wirklich Tristan McLean. Leo hatte dieses Gesicht oft genug im Kino gesehen. Er hatte auf der Seite des Kopfes eine scheußliche Wunde und sah dünn und krank aus – und so gar nicht heroisch.
»Dad!«, schrie Piper.
Mr McLean blinzelte und versuchte, klar zu sehen. »Pipes? Wo …?«
Piper zog ihren Dolch und drehte sich zu Enceladus um. »Lass ihn frei!«
»Natürlich, meine Liebe«, polterte der Riese. »Schwöre mir Treue, dann sind alle Probleme beseitigt. Nur diese anderen hier müssen sterben.«
Pipers Blicke jagten zwischen Leo und ihrem Dad hin und her.
»Er wird dich umbringen«, warnte Leo. »Glaub ihm kein Wort.«
»Hör mir zu!«, brüllte Enceladus. »Du weißt doch, dass ich geboren wurde, um gegen Athene zu kämpfen? Mutter Gaia hat jedem von uns Riesen einen bestimmten Zweck gegeben, wir sind dafür da, eine besondere Gottheit zu bekämpfen und zu vernichten. Ich bin die Nemesis der Athene – eine Anti-Athene, könnte man sagen. Im Vergleich zu einigen meiner Brüder bin ich klein! Aber ich bin klug, und ich werde mein Wort halten, Piper McLean. Das gehört zu meinem Plan.«
Jason war jetzt aufgesprungen und hatte die Lanze gehoben, aber ehe er handeln konnte, brüllte Enceladus – so laut, dass es im Tal widerhallte und vermutlich noch in San Francisco zu hören war.
Am Waldrand erhob sich ein halbes Dutzend scheußlich aussehende Wesen. Leo begriff mit übelkeiterregender Sicherheit, dass sie sich dort nicht einfach versteckt hatten. Sie hatten sich direkt aus der Erde erhoben.