»Oh«, sagte Leo. »Ich meine, klar doch. Jetzt braucht er dich. Wir können allein weitermachen.«
»Piper, nein.« Ihr Dad hatte mit einer Decke um die Schultern in der Einstiegsluke gesessen, aber jetzt kam er unsicher auf die Beine. »Du hast eine Mission. Einen Auftrag. Ich kann nicht …«
»Ich kümmere mich um ihn«, sagte Trainer Hedge.
Piper starrte ihn an. Der Satyr war der Letzte, von dem sie dieses Angebot erwartet hatte. »Sie?«, fragte sie.
»Ich bin Beschützer«, sagte Gleeson. »Das ist meine Aufgabe, nicht das Kämpfen.«
Er klang ein wenig kleinlaut, und Piper ging auf, dass sie vielleicht nicht hätte erzählen sollen, wie er in der letzten Schlacht bewusstlos geschlagen worden war. Auf seine Weise war der Satyr wahrscheinlich ebenso empfindlich wie ihr Dad.
Dann richtete Hedge sich auf und schob das Kinn vor. »Aber natürlich bin ich auch ein guter Kämpfer.« Er starrte sie alle an, wie um sie zum Widerspruch herauszufordern.
»Klar«, sagte Jason.
»Beängstigend«, sagte Leo.
Der Trainer grunzte. »Aber eigentlich bin ich Beschützer, und ich kann das übernehmen. Deine Dad hat Recht, Piper. Du musst weitermachen.«
»Aber …« Pipers Augen brannten, als stünde sie wieder im Rauch. »Dad …« Er streckte die Arme aus und sie warf sich hinein. Er kam ihr zerbrechlich vor. Er zitterte so sehr, dass es ihr Angst machte.
»Geben wir ihnen eine Minute«, sagte Jason und sie entfernten sich mit der Pilotin ein paar Meter.
»Ich kann es nicht fassen«, sagte ihr Dad. »Ich habe dich im Stich gelassen.«
»Nein, Dad.«
»Was sie getan haben, Piper, die Visionen, die sie mir gezeigt haben …«
»Dad.« Sie zog die Phiole aus der Tasche. »Das hier hat Aphrodite mir gegeben, für dich. Es entfernt deine Erinnerungen an die letzten Tage. Und dann wird es sein, als wäre das alles nie passiert.«
Er starrte sie an, wie um ihre Worte aus einer fremden Sprache zu übersetzen. »Aber du bist eine Heldin. Würde ich das auch vergessen?«
»Ja«, flüsterte Piper. Sie zwang sich, sich zuversichtlich anzuhören. »Ja, das würdest du. Es wäre wie – wie früher.«
Er schloss die Augen und holte zitternd Atem. »Ich liebe dich, Piper. Ich habe dich immer geliebt. Ich – ich habe dich weggeschickt, weil ich dich meinem Leben nicht aussetzen wollte. Weder der Welt, in der ich aufgewachsen bin – in Armut, in Hoffnungslosigkeit –, noch dem Wahnsinn von Hollywood. Ich dachte, dadurch könnte ich dich beschützen.« Er brachte ein unsicheres Lachen zu Stande. »Als ob dein Leben ohne mich besser gewesen wäre oder sicherer.«
Piper nahm seine Hand. Er hatte schon früher davon gesprochen, sie beschützen zu wollen, aber sie hatte es nicht geglaubt. Sie hatte immer gedacht, das seien bloß Ausflüchte. Ihr Dad wirkte so selbstsicher und gelassen, als sei sein Leben eine einzige Party. Wie konnte er behaupten, dass sie davor beschützt werden müsste?
Endlich begriff Piper, dass er ihr zuliebe so gehandelt hatte, um nicht zu zeigen, wie verängstigt und unsicher er war. Er hatte wirklich versucht, sie zu beschützen. Und jetzt war seine Fähigkeit, so mit dem Leben umzugehen, zerstört worden.
Sie reichte ihm die Phiole. »Nimm sie und trink. Vielleicht können wir ja eines Tages noch einmal darüber reden. Wenn du so weit bist.«
»Wenn ich so weit bin«, murmelte er. »Das klingt so, als – als ob ich hier derjenige bin, der erwachsen werden muss. Ich bin doch der Vater.« Er nahm die Phiole. In seinen Augen funkelte eine kleine verzweifelte Hoffnung. »Ich liebe dich, Pipes.«
»Ich dich auch, Dad.«
Er trank die rosa Flüssigkeit. Dann verdrehte er die Augen und kippte nach vorn. Piper fing ihn auf und ihre Freunde kamen angerannt, um zu helfen.
»Hab ihn«, sagte Hedge. Der Satyr stolperte, war aber stark genug, um Tristan McLean auf den Beinen zu halten. »Ich habe unsere Freundin schon gebeten, sein Flugzeug kommen zu lassen. Es ist unterwegs. Adresse?«
Piper wollte es ihm gerade sagen, da kam ihr ein Gedanke. Sie sah in seiner Tasche nach, und sein BlackBerry war noch vorhanden. Es wirkte bizarr, dass er nach allem, was er durchgemacht hatte, noch etwas so Alltägliches bei sich hatte, aber vermutlich hatte Enceladus keinen Grund gesehen, ihm das Ding wegzunehmen.
»Hier ist alles«, sagte Piper. »Adresse, Telefonnummer seines Chauffeurs. Hüten Sie sich vor Jane.«
Hedges Augen leuchteten auf. Er schien einen möglichen Kampf zu wittern. »Wer ist Jane?«
Bis Piper es erklärt hatte, war der elegante weiße Gulfstream ihres Dads bereits neben dem Hubschrauber geparkt.
Hedge und die Stewardess brachten Pipers Dad an Bord. Dann kam Hedge ein letztes Mal heraus, um Abschied zu nehmen. Er umarmte Piper und starrte Jason und Leo drohend an. »Ihr passt auf dieses Mädchen auf, klar? Sonst lass ich euch Liegestütze machen.«
»Alles klar, Trainer«, sagte Leo und seine Mundwinkel zuckten.
»Keine Liegestütze«, versprach Jason.
Piper umarmte den alten Satyrn noch einmal. »Danke, Gleeson. Bitte, passen Sie auf ihn auf.«
»Ich hab alles im Griff, McLean«, versicherte er. »Auf dem Flug gibt es Malzbier und vegetarische Enchiladas und Servietten aus reinem Leinen – lecker! Daran könnte ich mich gewöhnen.«
Er stieg die Gangway hoch, verlor einen Schuh und für eine Sekunde war sein Huf zu sehen. Die Stewardess machte große Augen, aber sie wandte sich ab und ließ sich nichts anmerken. Piper konnte sich vorstellen, dass sie schon seltsamere Dinge gesehen hatte, sie arbeitete schließlich für Tristan McLean.
Als das Flugzeug über die Startbahn rollte, brach Piper in Tränen aus.
Sie hatte sich so lange zurückgehalten und jetzt ging es einfach nicht mehr. Ehe sie sich’s versah, hatte Jason sie an sich gezogen, und Leo trat verlegen von einem Fuß auf den anderen und holte Papiertaschentücher aus seinem Werkzeuggürtel.
»Dein Dad ist in guten Händen«, sagte Jason. »Du warst umwerfend.«
Sie schluchzte in sein Hemd und erlaubte sich, für sechs tiefe Atemzüge in seinen Armen zu bleiben. Sieben. Dann durfte sie sich nicht weiter gehen lassen. Die anderen brauchten sie. Die Hubschrauberpilotin sah schon besorgt aus, als frage sie sich langsam, warum sie sie eigentlich hergebracht hatte.
»Danke, Jungs«, sagte Piper. »Ich …«
Sie wollte ihnen sagen, wie wichtig sie für sie waren. Sie hatten alles geopfert, vielleicht sogar ihren Auftrag, um ihr zu helfen. Sie würde ihnen das nicht zurückzahlen können, sie konnte nicht einmal ihre Dankbarkeit in Worte fassen. Aber in den Gesichtern ihrer Freunde sah sie, dass sie das verstanden.
Dann fing gleich neben Jason die Luft an zu schimmern. Zuerst hielt Piper es für die vom Asphalt zurückgestrahlte Hitze oder vielleicht für Abgase des Hubschraubers, aber sie hatte so etwas schon mal gesehen – in Medeas Springbrunnen. Es war eine Iris-Botschaft. Ein Bild erschien in der Luft – ein dunkelhaariges Mädchen in silberner Wintertarnkleidung und mit einem Bogen in der Hand.
Jason trat vor Überraschung einen Schritt zurück. »Thalia?«
»Den Göttern sei Dank«, sagte die Jägerin.
Die Szene hinter ihr war schwer zu durchschauen, aber Piper hörte Geschrei, Metall, das gegen Metall knallte, und Explosionen.
»Wir haben sie gefunden«, sagte Thalia. »Wo seid ihr?«
»Oakland«, sagte er. »Und du?«
»Beim Wolfshaus. Oakland ist gut, ihr seid nicht sehr weit weg. Wir halten die Lakaien des Riesen in Schach, aber das schaffen wir nicht ewig. Ihr müsst vor Sonnenuntergang hier sein, oder alles ist verloren.«
»Dann ist es noch nicht zu spät?«, rief Piper. Hoffnung durchfuhr sie, aber Thalias Miene dämpfte dieses Gefühl rasch wieder.
»Noch nicht« sagte Thalia. »Aber Jason – es ist schlimmer, als mir klar war. Porphyrion erhebt sich. Beeilt euch.«
»Und wo ist das Wolfshaus?«, fragte er verzweifelt.
»Unser letzter Ausflug«, sagte Thalia, während ihr Bild wieder flackerte. »Der Park. Jack London. Weißt du noch?«
Für Piper ergab das keinen Sinn, aber Jason sah aus wie angeschossen. Er schwankte, sein Gesicht wurde bleich und die Iris-Botschaft verschwand.