»Mein Dad«, sagte sie nachdenklich. »Ja, ich weiß. Ich dachte gerade an Jason. Ich mache mir Sorgen um ihn.«
Leo nickte. Je näher sie dieser dunklen Wolkenwand kamen, umso größere Sorgen machte sich auch Leo. »Er fängt an, sich an etwas zu erinnern. Das muss ihn ja nervös machen.«
»Aber was, wenn … wenn er dann ein anderer ist?«
Leo hatte darüber auch schon nachgedacht. Wenn der Nebel ihre Erinnerungen beeinflussen konnte, war es dann nicht möglich, dass auch Jasons gesamte Persönlichkeit eine Illusion war? Wenn ihr Freund eigentlich gar nicht ihr Freund war, und wenn sie unterwegs zu einem verfluchten Haus waren – einem für Halbgötter gefährlichen Ort –, was würde passieren, wenn Jasons Erinnerung mitten in einer Schlacht zurückkäme?
»Nö«, entschied Leo. »Nach allem, was wir durchgemacht haben? Das kann ich mir nicht vorstellen. Wir sind ein Team. Jason kann damit umgehen.«
Piper strich ihr Kleid glatt, es war vom Kampf auf dem Mount Diablo zerfetzt und versengt. »Ich hoffe, du hast Recht. Ich brauche ihn …« Sie räusperte sich. »Ich meine, ich brauche es, ihm vertrauen zu können …«
»Ich weiß«, sagte Leo. Nachdem er den Zusammenbruch ihres Dad gesehen hatte, war Leo klar, dass Piper Jason nicht auch noch verlieren durfte. Sie hatte eben erst gesehen, wie Tristan McLean, ihr cooler, gelassener Filmstar von einem Vater, fast bis zum Irrsinn gebracht worden war. Schon Leo hatte diesen Anblick kaum ertragen können, aber Piper – Leo konnte sich nicht einmal vorstellen, wie das für sie sein musste. Er ging davon aus, dass es auch an ihrem Selbstvertrauen kratzen müsste. Wenn Schwäche vererbbar war, musste sie sich doch fragen, ob sie auch so zusammenbrechen könnte wie ihr Dad.
»He, mach dir keine Sorgen«, sagte Leo. »Piper, du bist die stärkste, mächtigste Schönheitskönigin, die mir je über den Weg gelaufen ist. Du kannst dich auf dich selbst verlassen. Und, falls das etwas nutzt, auf mich kannst du dich auch verlassen.«
Der Hubschrauber geriet in ein Luftloch und Leo hätte fast einen Herzstillstand bekommen. Er fluchte und zog die Maschine wieder gerade.
Piper lachte nervös. »Mich auf dich verlassen, ja?«
»Ach, halt doch die Klappe.«Er grinste sie an und für einen Moment hatte er das Gefühl, einfach mit einer Freundin abzuhängen.
Aber dann hatten sie die Sturmwolken erreicht.
XLVIII
Leo
Zuerst dachte Leo, Felsen prasselten auf die Windschutzscheibe. Dann ging ihm auf, dass es Schneeregen war. An den Rändern der Glasscheiben baute sich Frost auf und Wellen aus zähflüssigem Eis versperrten ihm die Sicht.
»Ein Eissturm?«, brüllte Piper, um Motor und Wind zu übertönen. »Wird es in Sonoma denn so kalt?«
Leo war sich nicht sicher, aber etwas an diesem Sturm wirkte bewusst, bösartig – als ob er sie absichtlich getroffen hätte.
Jason wachte auf. Er kroch nach vorn und hielt sich an den Sitzen fest, um nicht umgeworfen zu werden. »Wir müssen doch schon in der Nähe sein.«
Leo war zu sehr mit dem Kampf mit dem Steuerknüppel beschäftigt, um zu antworten. Plötzlich war es nicht mehr so leicht, den Hubschrauber zu fliegen; seine Bewegungen wurden ruckhaft und träge. Der gesamte Hubschrauber zitterte im eisigen Wind. Er war vermutlich nicht für den Einsatz im kalten Wetter ausgerüstet. Die Kontrollsysteme weigerten sich zu reagieren und sie fingen an, Höhe einzubüßen.
Der Boden unter ihnen war eine dunkle Steppdecke aus Bäumen und Nebel. Ein Hügelkamm ragte vor ihnen auf und Leo riss am Steuerknüppel und konnte den Baumwipfeln gerade noch ausweichen. »Da!«, brüllte Jason. Vor ihnen öffnete sich ein schmales Tal und in der Mitte ragte der Umriss eines Gebäudes auf. Leo lenkte den Hubschrauber voll darauf zu. Alles um sie herum loderte auf, und das erinnerte Leo an die Leuchtspurmunition auf dem Grundstück des Midas. Bäume knickten ab und explodierten am Rand der Lichtung. Gestalten bewegten sich durch den Wind. Überall schien gekämpft zu werden.
Leo ließ den Hubschrauber auf einem vereisten Feld landen, das vielleicht fünfzig Meter vom Haus entfernt lag, und würgte den Motor ab. Er wollte gerade erleichtert aufatmen, als er ein Pfeifen hörte und eine dunkle Gestalt aus dem Nebel auf sie zurannte.
»Raus!«, brüllte Leo.
Sie sprangen aus dem Hubschrauber und waren gerade aus der Reichweite der Rotoren gerannt, als ein gewaltiger Knall die Erde erbeben ließ, Leo zu Boden warf und ihn mit Eissplittern bedeckte.
Zitternd kam er auf die Füße und sah, dass der größte Schneeball aller Zeiten – ein Brocken aus Eis, Schnee und Lehm von der Größe einer Garage – den Bell 412 restlos plattgemacht hatte.
»Alles in Ordnung bei dir?« Jason kam zusammen mit Piper auf ihn zugerannt. Sie sahen unversehrt aus, außer dass sie von Schnee und Dreck gesprenkelt waren.
»Ja.« Leo zitterte. »Jetzt schulden wir der Frau von der Parkaufsicht wohl einen neuen Hubschrauber.«
Piper zeigte nach Süden. »Gekämpft wird dahinten.« Dann runzelte sie die Stirn. »Nein … überall um uns herum.«
Sie hatte Recht. Der Kampflärm hallte durch das ganze Tal. Schnee und Nebel nahmen ihnen die Sicht, aber überall um das Wolfshaus schien eine Schlacht zu toben.
Hinter ihnen ragte Jack Londons Traumhaus auf – eine gewaltige Ruine aus roten und grauen Steinen und grob zurechtgehauenen Holzbalken. Leo konnte sich vorstellen, wie es vor dem Brand ausgesehen hatte, eine Mischung aus Blockhaus und Burg, wie nur ein zum Milliardär gewordener Holzfäller es sich bauen lassen würde. Aber durch Nebel und Eisregen wirkte der Ort einsam und gespenstisch. Leo glaubte ohne Zögern, dass die Ruine verflucht war.
»Jason!«, rief eine Mädchenstimme.
Thalia tauchte aus dem Nebel auf, ihr Parka von Schnee verkrustet. Sie hielt ihren Bogen in der Hand und der Köcher war fast leer. Sie rannte auf sie zu, kam aber nur wenige Schritte weit, ehe ein sechsarmiges Ungeheuer – einer der Erdgeborenenen – hinter ihr aus dem Sturm auftauchte und in jeder Hand eine Keule schwang.
»Achtung!«, schrie Leo. Sie stürzten auf Thalia zu, um ihr zu helfen, aber sie hatte die Lage im Griff. Sie ließ sich fallen, schoss einen Pfeil ab, während sie sich wie eine Turnerin um sich selbst drehte und auf den Knien landete. Das Ungeheuer wurde zwischen den Augen getroffen und zerschmolz zu einem Lehmhaufen.
Thalia stand auf und holte sich ihren Pfeil zurück, aber die Spitze war abgebrochen. »Das war mein letzter.« Sie verpasste dem Lehmhaufen einen rachsüchtigen Tritt. »Blödes Ungeheuer.«
»War aber ein guter Schuss«, sagte Leo.
Thalia ignorierte ihn wie üblich (was zweifellos bedeutete, dass sie ihn noch immer total cool fand). Sie umarmte Jason und nickte Piper zu. »Gerade rechtzeitig. Meine Jägerinnen haben einen Kreis um das Haus gebildet, aber wir können jeden Moment überrannt werden.«
»Von Erdgeborenen?«, fragte Jason.
»Und von Wölfen, den Lieblingen des Lycaon.« Thalia blies sich ein Stück Eis von der Nase. »Und Sturmgeistern …«
»Aber die haben wir zu Aeolus gebracht!«, warf Piper ein.
»Der versucht hat, uns umzubringen«, erinnerte Leo sie. »Vielleicht hilft er jetzt wieder Gaia.«
»Das weiß ich nicht«, sagte Thalia. »Aber die Monster bilden sich fast so schnell wieder neu, wie wir sie umbringen können. Wir haben das Wolfshaus problemlos eingenommen, haben die Wachtposten überrascht und geradewegs in den Tartarus geschickt. Aber dann kam plötzlich dieser komische Schneesturm. Eine Welle aus Monstern nach der anderen ging zum Angriff über. Jetzt sind wir umstellt. Ich weiß nicht, wer oder was den Angriff leitet, aber ich glaube, es war so geplant. Es ist eine Falle, um alle zu töten, die versuchen, Hera zu retten.«