»Wo ist sie?«, fragte Jason.
»Drinnen«, sagte Thalia. »Wir wollten sie befreien, aber wir kommen nicht dahinter, wie wir den Käfig aufbrechen können. Und in wenigen Minuten geht die Sonne unter. Hera glaubt, dass dann Porphyrion wiedergeboren werden wird. Und die Monster sind nachts stärker. Wenn wir Hera nicht bald befreien …«
Sie brauchte den Satz nicht zu vollenden.
Leo, Jason und Piper folgten ihr in das zerfallene Haus.
Jason stieg über die Schwelle und brach zusammen.
»He!« Leo fing ihn auf. »So nicht, Mann. Was ist los?«
»Dieses Haus …« Jason schüttelte den Kopf. »Tut mir leid … plötzlich war alles wieder da.«
»Du warst also wirklich schon mal hier«, sagte Piper.
»Das waren wir beide«, sagte Thalia. Ihr Gesicht war düster, als erlebe sie seinen angeblichen Tod noch einmal. »Hier war unsere Mom mit uns, als Jason noch klein war. Sie hat ihn hiergelassen, hat mir erzählt, er sei tot. Er verschwand einfach.«
»Sie hat mich den Wölfen gegeben«, murmelte Jason »Auf Heras Befehl. Sie hat mich Lupa überlassen.«
»Das wusste ich nicht.« Thalia runzelte die Stirn. »Wer ist Lupa?«
Eine Explosion erschütterte das Haus. Draußen blähte sich eine pilzförmige Wolke auf und ließ Schneeflocken und Eis regnen, wie eine Atomexplosion aus Kälte anstatt aus Hitze.
»Jetzt ist vielleicht nicht der richtige Moment für Fragen«, meinte Leo. »Bring uns zu der Göttin.«
Im Haus schien Jason sich wieder zu fassen. Das Haus war als riesiges U gebaut und Jason führte sie zu einem Hof mit einem leeren Wasserbecken zwischen den beiden Flügeln. Unten im Becken, so wie Jason es nach seinem Traum beschrieben hatte, waren zwei schmale Käfige aus Steinen und Wurzeln durch die Fliesen gebrochen.
Ein Käfig war viel größer – eine dunkle Masse, die fast sieben Meter hoch war, und für Leo sah sie aus wie ein steinerner Leichensack. Unter der Masse aus verschlungenen Ranken konnte er die Umrisse eines Kopfs erkennen, breite Schultern, eine massige Brust, kräftige Arme, als stecke die Kreatur bis zur Taille im Boden. Nein, sie steckte nicht fest – sie erhob sich.
Der zweite Käfig am anderen Ende des Beckens war kleiner und weniger massiv. Jede Wurzelranke war so dick wie ein Telefonmast, und zwischen ihnen war so wenig Platz, dass Leo daran zweifelte, dass er seinen Arm hindurchschieben könnte. Aber er konnte hineinsehen. Und mitten im Käfig stand Tía Callida.
Sie sah genauso aus wie in Leos Erinnerung: dunkle Haare unter einem Tuch, das schwarze Kleid einer Witwe, ein runzliges Gesicht mit stechenden, angsteinflößenden Augen.
Sie leuchtete nicht und strahlte keinerlei Macht aus. Sie sah aus wie eine ganz normale Sterbliche, seine gute alte psychotische Babysitterin.
Leo sprang in das Becken und ging auf den Käfig zu. »Hola, Tía. Hast du Probleme?«
Sie verschränkte die Arme und seufzte gereizt. »Schau mich nicht an, als ob ich eine deiner Maschinen wäre, Leo Valdez. Hol mich hier raus.«
Thalia trat neben Leo und schaute den Käfig angeekelt an – aber vielleicht meinte sie auch die Göttin. »Wir haben alles versucht, was uns einfiel, Leo, aber vielleicht war ich nicht mit dem Herzen dabei. Wenn es nach mir ginge, würde ich sie einfach hier sitzenlassen.«
»Oh, Thalia Grace«, sagte die Göttin. »Wenn ich hier rauskomme, wirst du bereuen, dass du überhaupt geboren bist.«
»Hör auf damit!«, fauchte Thalia. »Du bist seit Jahrhunderten für alle Kinder des Zeus nichts als ein Fluch. Du hast eine Herde von Kühen mit Darmproblemen auf meine Freundin Annabeth gehetzt …«
»Sie hat es an Respekt fehlen lassen!«
»Du hast mir eine Statue auf die Beine geworfen!«
»Das war ein Unfall!«
»Und du hast meinen Bruder geholt!« Thalias Stimme überschlug sich. »Hier – an dieser Stelle. Du hast unser Leben ruiniert. Wir sollten dich Gaia überlassen.«
»He«, schaltete sich Jason ein. »Thalia, Schwesterherz, ich weiß. Aber das ist nicht der richtige Moment. Hilf du lieber deinen Jägerinnen.«
Thalia biss die Zähne zusammen. »Na gut. Für dich, Jason. Aber wenn du mich fragst, dann ist sie es nicht wert.«
Thalia fuhr herum, sprang aus dem Becken und stürmte davon.
Leo drehte sich mit widerwilligem Respekt zu Hera um. »Kühe mit Darmproblemen?«
»Konzentrier du dich auf den Käfig, Leo«, knurrte sie. »Und Jason – du bist weiser als deine Schwester. Ich habe mir meinen Ritter klug ausgesucht.«
»Ich bin nicht Euer Ritter«, sagte Jason. »Ich helfe Euch nur, weil Ihr meine Erinnerungen gestohlen habt und weil Ihr besser seid als die andere Seite. Und wo wir schon davon reden, was läuft denn hier eigentlich?«
Er nickte zu dem anderen Käfig hinüber, der aussah wie ein übergroßer Leichensack. War das Leos Einbildung oder war er gewachsen, seit sie hergekommen waren?
»Das, Jason«, sagte Hera, »ist der König der Riesen bei seiner Wiedergeburt.«
»Krass«, sagte Piper.
»In der Tat«, sagte Hera. »Porphyrion, der Stärkste seiner Sippe. Gaia brauchte sehr viel Kraft, um ihn auferstehen zu lassen – meine Kraft. Seit Wochen werde ich immer schwächer, weil meine Kraft benutzt wird, um ihm eine neue Gestalt zu geben.«
»Ihr seid also so eine Art Wärmelampe«, meinte Leo. »Oder Dünger.«
Die Göttin starrte ihn wütend an, aber Leo war das egal. Diese alte Dame hatte ihm das Leben schon vermiest, als er noch ein Baby gewesen war. Er hatte alles Recht der Welt, sie zu verspotten.
»Mach du nur deine Witze«, sagte Hera schnippisch. »Aber bei Sonnenuntergang wird es zu spät sein. Der Riese wird aufwachen. Er wird mich vor die Wahl stellen, ihn zu heiraten oder von der Erde verschlungen zu werden. Und ich kann ihn nicht heiraten. Wir werden alle vernichtet werden. Und wenn wir sterben, wird Gaia erwachen.«
Leo musterte den Käfig des Riesen stirnrunzelnd. »Können wir das Ding nicht sprengen oder so was?«
»Ohne mich hast du dazu nicht die Kraft«, sagte Hera. »Da könntest du gleich versuchen, einen Berg zu vernichten.«
»Haben wir heute schon gemacht«, sagte Jason.
»Jetzt macht schon und lasst mich raus!«, verlangte Hera.
Jason kratzte sich am Kopf. »Leo, schaffst du das?«
»Keine Ahnung.« Leo versuchte, nicht in Panik zu geraten. »Aber wenn sie eine Göttin ist, warum hat sie sich nicht selbst freigesprengt?«
Hera lief wütend im Käfig hin und her und fluchte auf Altgriechisch. »Benutz deinen Verstand, Leo Valdez. Ich habe dich ausgesucht, weil du intelligent bist. Göttliche Macht ist nutzlos, sobald wir gefangen sind. Dein Vater hat mich einmal auf einem goldenen Thron festgehalten. Das war so demütigend! Ich musste betteln – musste ihn um Freiheit anflehen und um Entschuldigung bitten, weil ich ihn vom Olymp geworfen hatte.«
»Find ich fair«, sagte Leo.
Wenn Blicke töten könnten, hätte Hera Leo jetzt umgebracht. »Ich habe dich schon als kleines Kind beobachtet, Sohn des Hephaistos, weil ich wusste, du würdest mir in diesem Moment helfen können. Wenn irgendwer eine Möglichkeit finden kann, dies schändliche Verlies zu zerstören, dann bist du das.«
»Aber das ist keine Maschine. Es ist so, als hätte Gaia die Hand aus dem Boden gestreckt und …« Leo wurde schwindlig. Ihm fiel die Zeile aus der Weissagung ein: Schmied und Taube den Käfig zerbrechen. »Moment. Ich habe doch eine Idee. Piper, ich werde deine Hilfe brauchen. Und wir brauchen Zeit.«
Die Luft knisterte jetzt vor Kälte. Die Temperatur fiel so rasch, dass Leos Lippen aufsprangen und sein Atem sich in Nebel verwandelte. Reif überzog die Mauern des Wolfshauses. Venti kamen herbeigestürmt – aber diese waren keine geflügelten Männer, sondern Pferde mit Leibern aus düsteren Sturmwolken und Mähnen, in denen die Blitze knisterten. Einigen ragten Silberpfeile aus den Flanken. Hinter ihnen folgten rotäugige Wölfe und die sechsarmigen Giganten.