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Wir gingen durch die Eingangshalle und hinaus an die frische Luft, während die meisten Leute erst noch kamen und voller Neugier in Isobels verweintes Gesicht starrten. Da es ungnädig hell draußen war und auch noch eine Weile bleiben würde, denn es war erst halb acht, steuerte ich sie vom Eingang weg, und sie ging ohne jeden Widerstand mit mir um die nächste Ecke.

Das Rathaus lag auf der einen Seite des gepflasterten Platzes. Der Schlafende Drache nahm die angrenzende Seite ein, Geschäfte (und unser Wahlkampfbüro) die beiden anderen. Breite Gassen, durch die früher Autos gefahren waren, gingen von den vier Ecken ab, und an einer davon lag der Rathauseingang. Auf der dem Platz zugewandten Seite des Rathauses verlief eine Art Wandelgang unter Arkaden, mit Bänken zum Ausruhen. Isobel Bethune ließ sich auf eine der Bänke sinken, und nach einem Augenblick der Feigheit, in dem ich sie am liebsten sich selbst überlassen hätte, setzte ich mich zu ihr und überlegte, was ich bloß sagen könnte.

Eine unnötige Sorge. Sie weinte hemmungslos weiter und ließ ihrem Unglück und dem Hader mit ihrem ungerechten Schicksal freien Lauf. Ich hörte nur halb zu, betrachtete den verhärmten Zug um ihren rotgemalten Mund, ihre verquollenen Augen, ihre grau strähnigen Haare und sah doch, daß sie vor gar nicht langer Zeit recht hübsch gewesen sein mußte - bis Usher Rudd ihre heile Welt mit einem Schlagzeilenhammer zertrümmert hatte.

Ihre Söhne seien genauso schlimm, schluchzte sie. Fünfzehn und siebzehn, immer nur mürrisch, immer kontra, hätten an allem was zu meckern. Wenn Paul gewählt würde, wäre er wenigstens öfter aus dem Haus, und o Gott, was rede sie da nur, aber wenn er nicht ginge, müsse sie gehen - und wo sollte sie denn hin? Sie sei mit ihrer Weisheit am Ende.

Sie stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch, dachte ich. Ich war erst zwölf gewesen, als meine Tante Susan schreiend und türenknallend ausgerastet war, das Auto über den Rasen in die Hecke gefahren hatte und zur Beobachtung in eine Klinik eingewiesen wurde; ihr Zustand hatte sich dann noch verschlimmert, als ihr zweiter Sohn fortging, sich einer Rapband anschloß und Aids bekam. Onkel Harry hatte meinen Vater um Hilfe gebeten, und der hatte eine gewisse Ordnung wiederhergestellt und auch Susan zur Besinnung gebracht; und mochte die Familie seitdem auch nicht überglücklich sein, so war sie doch zumindest nicht zerrüttet.

»Möchten Ihre Söhne, daß Ihr Mann gewählt wird?« fragte ich Isobel Bethune.

»Die brummen ja nur rum. Aus denen kriegt man kein Wort heraus.« Sie zog die Nase hoch und wischte sich die Augen mit den Fingern. »Paul meint, Orinda hätte er leicht besiegt, aber mit George Juliard sehe das anders aus. Oh! Ich hatte vergessen, daß Sie sein Sohn sind. Da sollte ich nicht so mit Ihnen reden. Paul wird sich aufregen .«

»Sagen Sie ihm nichts davon.«

»Besser nicht ... Möchten Sie was trinken?« Sie blickte zum Schlafenden Drachen hinüber. »Einen Cognac?«

Ich schüttelte den Kopf, aber da sie sagte, sie brauche dringend etwas zur Beruhigung und wolle nicht alleine trinken, ging ich mit ihr über den Platz und trank eine Cola, während sie sich einen doppelten Remy Martin mit Eis genehmigte. Wir saßen an einem kleinen Tisch in der Bar, die an diesem Freitagabend überwiegend von Paaren besucht war.

Isobels Hände zitterten.

Sie sagte, sie wolle sich frischmachen, und kam dann mit gekämmten Haaren, nachgezogenem Lippenstift und gepuderten Augenlidern zurück, hielt zwar immer noch ein Taschentuch in der Hand, war aber schon viel gefaßter.

Sie bestellte noch einen Cognac. Ich lehnte eine zweite Cola ab.

»Ins Rathaus will ich nicht mehr«, sagte sie. »Ich gehe von hier zu Fuß nach Hause. So weit ist das nicht.«

Als sie zu ihrem Glas griff, zitterte und klirrte nach wie vor das Eis darin.

»Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?« fragte ich.

Sie beugte sich über den Tisch und legte ihre Hand auf meine. »Sie sind ein netter Junge«, sagte sie, »ganz gleich, wer Ihr Vater ist.«

In dem Moment gab es den vertrauten hellen Blitz, dann rollte surrend ein Film weiter, und ein paar Schritte von uns entfernt stand der andere Rudd, Bobby Usher persönlich, siegesfroh grinsend und megawattstarke Bosheit ausstrahlend.

Isobel Bethune sprang empört von ihrem Platz auf, aber Usher Rudd, der Fluchterfahrene, war bereits zur Tür hinaus, ehe sie ihrem Unmut Luft machen konnte. »Wie ich den hasse«, sagte sie, wieder den Tränen nah. »Den bringe ich noch um.«

Ich bat den Barmann, ein Taxi zu rufen.

»Mrs. Bethune hat noch nicht bezahlt.«

»Oh.«

»Ich habe kein Geld dabei«, sagte sie. »Bitte seien Sie so lieb und übernehmen Sie das.«

Ich kramte den Rest des Geldes, das mein Vater mir in Brighton gegeben hatte, aus den Taschen und drückte es ihr in die Hand.

»Bezahlen Sie dem Herrn die Zeche. Ich darf noch keine Alkoholika kaufen, und da möchte ich keinen Ärger bekommen.«

Baß erstaunt rechneten Isobel und der Barmann ab.

Kapitel 5

Das Streitgespräch im Rathaus hatte sich mittlerweile so weit zugespitzt, daß die Hände beider Protagonisten Hackgesten vollführten.

Ein als Schiedsrichter eingesetzter Schachmeister vom Ort war mit einem Kurzzeitwecker zum Gefecht erschienen und hatte die Spielregel aufgestellt, daß beide Kandidaten im Wechsel auf bestimmte Fragen eingehen sollten und nach fünf Minuten, wenn die Uhr ertönte, das Wort abgeben mußten.

Mit dem Fünf-Minuten-Turnus kamen die Kontrahenten offenbar gut zurecht, weil sie beide reden konnten. Wie mein Vater die Leute aufzurütteln, zu unterhalten und zu überzeugen verstand, wunderte mich nicht mehr, aber von Paul Bethune hatte ich irgendwie einen selbstherrlichen, kalten Auftritt erwartet, der dazu paßte, wie er seine Frau behandelt hatte. Statt dessen ging er fundiert und mit trockenem Witz auf die Fragen ein, und erst nachher kam mir der Gedanke, er könnte seine klügsten Sprüche vielleicht erprobt und auswendig gelernt haben.

Das Rathaus war voll. Auf den Plätzen, die Polly mir und Isobel Bethune zugewiesen hatte, saß jetzt der Bürgermeister mit Gattin, und froh, nicht mehr so exponiert zu sein, blieb ich an der Tür stehen, sah zu, wie der Eifer, die Zustimmung oder auch die Empörung in Wellen durchs Publikum gingen, und dachte bei mir, daß dieses Publikum aufjeden Fall zuhörte und Anteil nahm.

An diesem Abend konnte es keinen Sieger geben. Beide gewannen. Alle klatschten Beifall und diskutierten weiter im Fortgehen.

Orinda hatte mehrmals Bethune applaudiert. Leonard Kitchens behielt die Hände fest in den Hosentaschen. Die liebe Polly strahlte gutmütig und glücklich über ihr langes, schmales Gesicht, und der sommersprossige Basil sah, wenn er lächelte, seinem widerlichen Cousin noch viel ähnlicher.

Niemand kam mit einem Gewehr daher.

Mein Vater und Paul Bethune gaben sich die Hand.

Wie Superstars gingen sie als letzte von der Bühne und waren beide sofort von schnatternden Satelliten umringt, die dies und das zu sagen, zu fragen oder sie auf etwas hinzuweisen hatten. Mein Vater sonnte sich darin, und wieder schwebte er auf Wolken, als wir zu unserem Quartier zurückkehrten.

»Über den Platz geht’s doch schneller«, wandte er ein, als ich ihm vorschlug, den Wandelgang zu nehmen. »Warum willst ausgerechnet du als Mathematiker an zwei Dreiecks seiten entlanglaufen, wenn’s mit einer getan ist?«

»Falls geschossen wird«, sagte ich.

»Mein Gott.« Er blieb jäh stehen. »Aber noch mal macht das doch keiner!«