»Ben«, sagte er. Er schnaubte durch die Nase, als fände er sich mit einer Last ab. »Komm rein.«
Er war immer bemüht, mir ein guter Vater zu sein, aber wenn ich ihn bei Gelegenheit als solchen lobte, gab er nichts darauf.
Ich war ein von ihm ungewolltes Kind, das Zufallsprodukt seiner Teenagerliebe zu einer Frau, die vom Alter her seine Mutter hätte sein können. An dem Tag, als ich nach Brighton kam, war ich fast so alt wie er, als er mich gezeugt hatte.
Im Lauf der Jahre hatte ich die Einzelheiten aufgeschnappt. In beiden Familienverbänden war der Teufel los gewesen, als sie von der Schwangerschaft erfuhren, aber (der Zeit entsprechend) erst recht, als meine Mutter sich weigerte, abzutreiben, und bei der ebenso raschen wie glücklichen Hochzeit hatte sich niemand blicken lassen.
Außer dem Hochzeitsfoto besaß ich kein Andenken an meine Mutter, die, eine Ironie des Schicksals, bei meiner Geburt an Eklampsie starb und ihren jungen Ehemann mit dem, wie es hieß, seine glänzenden Zukunftsaussichten zerstörenden Baby allein zurückließ.
George Juliard, der nicht umsonst als heller Kopf galt, hatte jedoch prompt sein ganzes Leben neu geordnet, dem Abschluß in Oxford und der geplanten Anwaltslaufbahn adieu gesagt, die Schwester seiner verstorbenen Frau überredet, mich als fünften Sohn in ihre ohnehin große Familie aufzunehmen, und war in die Wirtschaft gegangen, um das Geldgeschäft zu lernen. Er hatte von Anfang an meinen Unterhalt und meine Erziehung bezahlt und auch darüber hinaus seine Pflicht erfüllt, indem er an Elternabenden teilnahm und mir zu Weihnachten wie zum Geburtstag Karten und Geschenke schickte. Im Vorjahr hatte er mir zum Geburtstag ein Flugticket nach Amerika spendiert, so daß ich die Sommerferien bei der Familie eines Schulfreundes auf einem Gestüt in Virginia verbringen konnte. Viele Väter taten weniger.
Ich ging mit ihm in Zimmer 412 und wunderte mich nicht, in den Salon einer direkt auf den Ärmelkanal blickenden Suite zu kommen, vor deren Fenstern sich bis zum Horizont blaugrau das Meer erstreckte. Als George Juliard ausgezogen war, um Geld zu verdienen, hatte er Nägel mit Köpfen gemacht.
»Schon gefrühstückt?« fragte er.
»Keinen Hunger.«
Er ging über die Lüge hinweg. »Was hat dir Vivian Durridge gesagt?«
»Er hat mich rausgeworfen.«
»Ja, aber was hat er gesagt?«
»Ich könnte nicht reiten, und ich würde koksen und Leim schnüffeln.«
Mein Vater riß die Augen auf. »Wie bitte?«
»Du wolltest doch, daß er das sagt, oder nicht? Er meinte, er wüßte aus glaubwürdiger Quelle, daß ich Drogen nehme.«
»Hast du ihn gefragt, wer die Quelle ist?«
»Nein.« Das war mir erst hinterher im Wagen eingefallen.
»Du mußt noch viel lernen«, sagte mein Vater.
»Es war kein Zufall, daß dein Wagen da auf mich gewartet hat.«
Er lächelte ein wenig, mit glänzenden Augen. Er war größer als ich, breiter in den Schultern und insgesamt kräftiger, kompakter, aber - und das hätte man vor fünf Jahren noch nicht sagen können - wir besaßen doch eine ähnliche Statur. Seine Haare waren dunkler, dicht gelockt auf einem nahezu klassischen Kopf. Jetzt ging er auf die Vierzig zu, aber die entschlossenen Gesichtszüge hatte er auch schon auf dem Hochzeitsfoto, das gar keinen Altersunterschied erkennen ließ zwischen dem dominierenden Bräutigam und der Braut im blauen Seidenkleid, die vor dem Standesamt in jugendlicher Schönheit erstrahlte.
»Warum hast du das getan?« fragte ich, vergebens um einen eher sachlichen als bitteren Ton bemüht.
»Was denn?«
»Dafür gesorgt, daß ich rausfliege.«
»Ah.«
Er ging zu der zweiflügeligen Balkontür, öffnete sie und ließ die frische Küstenluft und die Kinderstimmen vom Strand herein. Einen Moment blieb er schweigend dort stehen und atmete tief durch, dann stieß er, als sei er zu einem Entschluß gekommen, die Glastür wieder zu und drehte sich zu mir um.
»Ich wollte dir einen Vorschlag machen«, sagte er.
»Was für einen Vorschlag?«
»Dazu muß ich ein bißchen weiter ausholen.« Er griff zum Telefon und bat den Zimmerservice, sofort Frühstücksflocken, Milch, Toast, gebratenen Speck mit Tomaten und Pilzen, einen Apfel, eine Banane und eine Kanne Tee heraufzubringen, ob die Küche seit über einer Stunde geschlossen sei oder nicht. »Und keine Widerrede«, sagte er danach zu mir, »du siehst aus, als hättest du seit einer Woche nichts gegessen.«
»Hast du Sir Vivian gesagt, daß ich Drogen nehme?« fragte ich.
»Nein. Nimmst du welche?«
»Nein.«
Wir schauten uns an wie Fremde, so eng wir durch unsere Gene auch verbunden waren. Ich hatte nach seinen Weisungen gelebt, die von ihm gewünschten Schulen besucht, hatte Reiten, Skifahren und Schießen gelernt, weil er meine Vorliebe für diese Sportarten finanziell unterstützte, und ich hatte nie Karten für Bayreuth, Covent Garden oder die Mailänder Scala bekommen, weil ihn diese Art von Zeitvertreib nicht interessierte.
Ich war wie die meisten heranwachsenden Söhne ein Produkt der väterlichen Erziehung. Ich wußte auch, daß er ein ausgeprägtes Ehrgefühl besaß, klar zwischen Recht und Unrecht unterschied und der Meinung war, ein jeder müsse für seine Verfehlungen einstehen und bezahlen, statt sie zu leugnen und zu vertuschen. Mit so einem Vorbild, meinten meine vier älteren Brüder oder vielmehr Cousins, könne ich einem leid tun.
»Setz dich«, sagte er.
Es war warm in dem Zimmer. Ich zog meine poppige Jacke aus, legte sie zusammen mit der Reitkappe auf den Boden und setzte mich in den eleganten Sessel, den er mir zuwies.
»Ich bin in Hoopwestern zur Nachwahl für unseren verstorbenen Abgeordneten nominiert worden«, sagte er.
»Ehm ...« Ich kam da nicht ganz mit.
»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
»Heißt das ... du kämpfst um ein Amt?«
»So würde es vielleicht dein amerikanischer Freund Chuck nennen, aber hier bei uns heißt das, ich kandidiere fürs Unterhaus.«
Ich wußte nicht, was ich dazu sagen sollte. Toll? Wie furchtbar? Und warum? »Kommst du denn rein?« stotterte ich.
»Es ist ein Wahlkreis mit knapper Mehrheit. Ungewiß.«
Ich sah mich zerstreut in dem unpersönlichen Zimmer um. Er wartete eine Spur ungeduldig.
»Was ist mit deinem Vorschlag?« fragte ich.
»Ja, gut ...« Irgendwo im Innern entspannte er sich. »Vivian Durridge hat dich ganz schön heruntergeputzt.«
»Ja.«
»Daß du Drogen nimmst - das hat er sich ausgedacht.«
»Aber wieso?« fragte ich verblüfft. »Wenn er mich nicht mehr haben wollte, hätte er das doch einfach sagen können.«
»Mehr als ein Wald-und-Wiesen-Amateur hättest du nicht drauf, meinte er zu mir. Als Jockey kämst du nie an die Spitze. Du würdest nur deine Zeit vertun.«
Ich wollte es nicht wahrhaben. Konnte mich damit nicht abfinden. »Es macht mir aber Spaß«, protestierte ich heftig.
»Ja, und wenn du mal in dich gehst, wirst du selbst zugeben, daß ein angenehmer Zeitvertreib für dein Alter zu wenig ist.« »Ich bin nicht du«, sagte ich. »Ich habe nicht deine Energie, deine .«
»Tatkraft?« tippte er an.
Ich dachte betreten darüber nach und nickte.
»Aber ich bin überzeugt«, sagte er, »daß du intelligent und -na ja - mutig genug bist für das, was ich mit dir vorhabe.«
Wenn er mir schmeicheln wollte, war ihm das natürlich gelungen. Solche Einschätzungen wischt kaum ein junger Mann beiseite.