Die Auftritte in Quindle und der Abend in der Vorschule füllten den Donnerstag aus, den Freitag die Stimmenwerbung von Tür zu Tür und das Streitgespräch im Rathaus.
Mehr desselben stand bevor. Hätte ich nicht die zusätzliche Aufgabe bekommen, gefährliche Anschläge auf besagten Kandidaten zu vereiteln, wären meine unter Lächelzwang gestellten Gesichtsmuskeln sicher lange vor dem Wahltag überstrapaziert worden.
Wie packt er das nur? fragte ich mich. Wie kommt es, daß ihm das ganz offensichtlich sogar Spaß macht?
»Morgen«, sagte er, von seinem Einfall angetan, »fahren wir nach Dorset auf die Rennbahn. Der Tag gehört Ben. Wir gehen zum Pferderennen.«
Meine erste Reaktion war Freude, was ihm nicht entging. Der Freude auf dem Fuß folgte eine tiefe Traurigkeit darüber, daß es mir nicht möglich war, dort selbst zu reiten, daß ich den Nachmittag als Ausgeschlossener zubringen würde, neidisch auf meines Nächsten Ochs, Esel und Rennsattel, wenn die Amateure an den Start gingen; aber ich glaube, ich ließ mir nur die Freude anmerken.
»Wir nehmen den Range Rover«, bestimmte mein Vater zufrieden. »Und Polly kommt mit, nicht wahr?«
»Liebend gern«, sagte Polly.
Ob Polly jemals log?
Wir tranken geruhsam den Kaffee, und mein Vater war wieder so entspannt wie die ganze merkwürdige Woche über. Polly verließ das Büro durch den Ausgang zum Parkplatz, um heim zu ihrem Haus in den Wäldern vor der Stadt zu fahren, und mein Vater und ich sperrten sorgfältig alles ab, gingen die schmale, steile Treppe hinauf und schliefen ungestört bis Samstag früh.
Mervyn klingelte am Morgen Sturm und zeigte sich über die Umdisponierung denkbar verärgert. Wie wollte George jemals diesen kritischen Wahlkreis für sich gewinnen, wenn er die Stimmenwerbung von Haus zu Haus vernachlässigte, die von »äußerster« Wichtigkeit war? Obendrein lag die Rennbahn von Dorset auch noch außerhalb des Hoopwesterner Einzugsbereichs.
Und wenn schon, beschwichtigte ihn mein Vater, die vielen Wähler aus Hoopwestern, die zum Pferderennen gingen, würden vielleicht günstig gestimmt.
Mervyn, keineswegs überzeugt, schwieg eine halbe Stunde lang verbissen im Gedanken an die beste Wochenendgelegenheit zum Stimmenfang, die hier vertan wurde, beschloß dann aber doch noch zu retten, was zu retten war, hängte sich ans Telefon und besorgte uns eine Einladung zum Mittagessen mit der Rennleitung sowie einen Schwung nützlicher Eintrittskarten. Als alter Hase kannte er alle einflußreichen Leute in der Grafschaft.
Natürlich machte er mich für die Umstellung verantwortlich, und vielleicht zu Recht. Er wäre sowieso lieber um Orinda herumgetanzt und hätte ihr jeden Wunsch von den Lippen abgelesen. Was er mit A. L. angefangen hätte, ahnte ich nicht, aber sicher kannte er den geheimnisvollen Schatten, da der Anonyme Liebhaber auch des verstorbenen Dennis Nagles bester Freund gewesen war. Sie hatten miteinander Golf gespielt.
Von Mervyns schlechter Laune unbeeindruckt, dachte ich, er mußte selber sehen, wie er mit seinem Frust zu Rande kam. Für ihn galt es, dafür zu sorgen, daß ein Kandidat entweder gewählt wurde oder so knapp wie möglich unterlag. Er würde seinen Ruf als Agent nicht aufs Spiel setzen, weil er sich mit dem alten oder dem jungen Juliard schwertat.
Die frostige Atmosphäre im Büro wurde durch einen Überraschungsbesuch der Frau vom Trödelladen nebenan ein wenig aufgelockert. Sie und Mervyn kannten sich gut, aber sie wollte zu gern den neuen Kandidaten kennenlernen; sie sehe uns immer ein und aus gehen, sagte sie, nun wolle sie George auch die Hand drücken; sie habe gehört, sein Sohn sei ein Prachtkerl, und ob wir vielleicht Lust auf ein Stück selbstgebackenen Apfelkuchen hätten?
Sie stellte ihr Geschenk meinem Vater auf den Schreibtisch.
»Nett von Ihnen, Amy«, meinte Mervyn, und aus der Art, wie er es sagte, schloß ich, daß er die Nachbarin seit langem kannte, sie wahrscheinlich aber immer schon geringgeachtet hatte.
Amy gehörte zu den Leuten, die man leicht geringschätzt, eine (laut Polly) bescheidene, zu allen aufschauende Witwe mittleren Alters, die ungeliebten Plunder sammelte, ihn zum Verkauf ein wenig aufmöbelte und niemals die gemeinnützige Einrichtung, die den Laden unterhielt, um einen Penny betrogen hätte. Amy war flatterig, ehrlich und etwas unbedarft; sie meinte es gut und schwätzte viel. Ein Tag Amy pur, dachte ich, reicht fürs Leben.
Man konnte unschwer Teile des Redestroms ausblenden, doch an einem Punkt fesselte sie unsere Aufmerksamkeit.
»Am Mittwoch abend hat mir jemand eine Fensterscheibe kaputtgemacht, und da erst mal einen zu finden, der eine neue einsetzt!« Sie erzählte uns viel zu ausführlich, wie sie das angestellt hatte. »Dann kam auch noch ein Polizist und wollte wissen, ob die Scheibe von einer Kugel zerschmettert worden war, und ich habe gesagt, natürlich nicht, denn ich putze ja jeden Morgen, wenn ich komme, erst mal alles durch, ich wohne ja nicht über dem Laden. Da ist nicht so viel Platz wie hier, nur ein Klo und ein kleines Zimmer, das ich als Lager benutze, aber im Notfall kann da auch mal ein Obdachloser übernachten. Jedenfalls hatte ich keine Kugel gefunden. Das sagte ich dem Polizisten, dem Joe - seine Mutter fährt hier einen Schulbus -, und er kam rein und hat sich umgesehen und ein paar Notizen gemacht. Ich hab in der Zeitung von dem Schuß gelesen und daß da vielleicht jemand Mr. Juliard im Visier gehabt hat; man ist aber auch wirklich nirgends mehr sicher, nicht wahr? Und wie ich heute dann so ein altes Wandgestell abstaube, das kein Mensch haben will, bleibe ich an was hängen und pule das raus, und jetzt frage ich mich, ob Joe vielleicht danach gesucht hat ... ob ich ihm das vielleicht sagen müßte?«
Sie griff in eine Tasche ihrer ausgeleierten graubraunen Strickjacke und legte ein unförmiges Stück Metall, das sicherlich aus einem 22er Gewehr abgefeuert worden war, neben den Apfelkuchen.
»Wenn Sie mich fragen«, sagte mein Vater mit Bedacht, »sollten Sie Ihrem Freund Joe, dessen Mutter den Schulbus fährt, erzählen, wo Sie das Stückchen Metall da gefunden haben.«
»Meinen Sie wirklich?«
»Ja.«
Amy nahm die Kugel in die Hand, betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen und rieb sie an ihrer Strickjacke ein wenig blank. Restliche Fingerspuren beseitigt, dachte ich.
»Also gut«, sagte Amy vergnügt, indem sie ihren Fund wieder einsteckte. »Ich habe mir gleich gedacht, daß es am besten ist, wenn ich Sie frage.«
Sie lud ihn ein, sich ihr Geschäft anzusehen, aber das überließ der Feigling mir, und so bekam ich auch das unansehnliche, zwei Meter hohe Rohrgestell zu Gesicht, das dicht beim Fenster die Kugel aufgefangen hatte.
»Jetzt biete ich das schon als Etagere an«, sagte Amy traurig, »und trotzdem mag es keiner. Hätten Sie vielleicht ...?«:
»Nein«, sagte ich. Und auch an den Silberlöffeln, dem Kinderspielzeug und den Secondhandkleidern, die fein säuberlich darauf warteten, ihren guten Zweck zu erfüllen, war ich nicht interessiert.
Ich holte den Range Rover aus seinem sicheren Hafen und fuhr mit meinem Vater Mervyns mißmutiger Wegbeschreibung nach zu Pollys unerwartet großem Haus im Wald. Sie saß dann auf der Fahrt zur Rennbahn hinten und erzählte uns mit diebischer Freude von ein paar Telefongesprächen, bei denen sie Süßholz geraspelt und Köder ausgeworfen hatte.
»Mr. Wyvern, der Anonyme Liebhaber«, sagte sie, »hat kurzfristig eine Einladung zum begehrtesten Golfturnier im Land erhalten; um da nein zu sagen, hätte er aus Stein sein müssen. Jetzt wird er mit seinen kostbaren Schlägern auf dem Platz erwartet, und damit ist er aus dem Weg.«
»Wie haben Sie das denn hingekriegt?« fragte mein Vater bewundernd.