Orinda sagte förmlich: »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich zum Führring begleiten würden.«
Ich nickte nur, als habe sie keinerlei Zugeständnis gemacht, und geleitete sie mit einem Minimum an Körpersignalen zu den im Kreis gehenden Pferden, denen die Sonne im Fell glänzte und die zu riechen und zu hören mir nach den letzten vier Tagen einen solchen Stich gab, daß ich überall lieber gewesen wäre als auf der Rennbahn.
»Was haben Sie?« fragte Orinda.
»Nichts.«
»Das ist nicht wahr.«
»Es spielt keine Rolle.«
Sie hatte mir eine wunderbare Eröffnung geboten für das, was ich loswerden wollte, aber ich scheute unglücklich davor zurück. Daß ich mich so elend fühlen würde, hatte ich nicht erwartet: ein Ausgeschlossener, der durch dickes Glas ein Leben sieht, das ihm verwehrt ist.
Ich suchte uns einen Platz direkt am Führring und gab ihr mein Rennprogramm, da sie ihres in der Loge vergessen hatte.
Sie nahm eine Brille, ohne die sie die kleine Schrift nicht lesen konnte, aus ihrer Handtasche, und ich half ihr, die Pferde anhand der Nummerndecken zu bestimmen.
»Was bedeuten denn all diese Zahlen?« fragte sie und wies flüchtig auf das Programm. »Die sagen mir überhaupt nichts.«
»Die sagen Ihnen, wie alt das Pferd ist und mit welchem Gewicht es ins Rennen geht. An dem Kleingedruckten sehen Sie, wie es zuletzt abgeschnitten hat. >Gef.< heißt gefallen, und >agh.< heißt angehalten und nicht ins Ziel gekommen.«
»Aha.« Sie studierte das Programm und las laut die Zulassungsbestimmungen für das erste Rennen vor, ein Viertausend-meter-Sieglosenrennen über die Hürden.
»Für Pferde ab vier Jahren, die bis Saisonbeginn noch in keinem Hürdenrennen gesiegt haben ... Waren sie nach Saisonbeginn über die Hürden erfolgreich, müssen sie 7 Pfund Aufgewicht tragen.« Sie sah mich ohne Sympathie an. »Was heißt 7 Pfund Aufgewicht?«
»Zusätzliches Gewicht. In der Regel ist das eine Decke mit dünnen, flachen Bleischeiben, die das Pferd mit der Nummerndecke unterm Sattel trägt.« Ich erklärte, daß sich Rennreiter mit dem ihrem Pferd zugeteilten Gewicht wiegen lassen mußten. »Man wird vor und nach dem Rennen gewogen.«
»Jaja, ich lebe doch nicht völlig hinterm Mond.«
»Entschuldigung.«
Sie schaute ins Programmheft. »Im ersten Rennen tritt nur ein Pferd mit sieben Pfund mehr an«, sagte sie. »Kann es damit siegen?«
»Wenn es wirklich gut ist.«
Sie blätterte das Programm durch. »In fast allen Rennen läuft ein Pferd mit, das wegen eines Saisonsiegs Aufgewicht trägt.«
»Mhm.«
»Wieviel Aufgewicht kann man denn bekommen?«
»Ich glaube nicht, daß da eine Grenze festgesetzt ist, aber mehr als zehn Pfund werden einem Pferd in der Regel nicht zugemutet. Sonst hätte es in einem Ausgleichsrennen kaum noch Chancen, und der Trainer würde es nicht laufen lassen.«
»Aber mit zehn Pfund Aufgewicht ist ein Sieg drin?« »So gerade noch.«
»Nicht zuviel verlangt?«
»Es kommt darauf an, wie stark das Pferd ist.«
Sie steckte ihre Brille ein und ließ sich von mir zum Toto bringen, wo sie auf das Pferd wettete, das am ersten Tag der Saison gesiegt und sich sieben Pfund Blei damit eingehandelt hatte. »Er muß der Beste sein«, meinte sie.
Orinda war fast so groß wie ich und ging immer einen Schritt vor mir her, als fände sie es ganz natürlich, ihren Begleiter im Rücken zu haben. Sie war es gewohnt, Blicke auf sich zu ziehen, und ihre Aufmachung wurde zu Recht bewundert, auch wenn sie mehr zu Ascot paßte als zu einem unbedeutenden Renntag auf dem flachen Land in Dorset.
Wir schauten von der Tribüne aus dem Rennen zu. Orindas Kandidat wurde Vierter.
»Und jetzt?« fragte sie.
»Das gleiche noch mal.«
»Wird Ihnen das nicht langweilig?«
»Nein.«
Sie zerriß ihren Wettschein und ließ die Schnipsel fallen wie ein hartgesottener Verlierer.
»Für mich gibt es Schöneres auf der Welt.« Sie sah auf die vielen Leute ringsum, die ihre Programmhefte studierten. »Was ist, wenn es regnet?«
Die Antwort darauf war schlicht, »dann wird man naß«, aber daran hätte sie sich wahrscheinlich gestoßen.
»Die Leute kommen nicht nur hierher, um zu wetten«, sagte ich, »sondern auch, um die Pferde zu sehen. Ich meine, Pferde sind fabelhaft.«
Sie warf mir einen mitleidigen Blick zu und sagte, nach dem nächsten Rennen werde sie in die Loge der Rennleitung zurück-kehren, dem Duke für seine Gastfreundschaft danken und nach Hause fahren. Sie könne die Faszination, die der Rennsport allgemein ausübe, nicht nachvollziehen.
»So geht es mir mit der Faszination, die für meinen Vater die Politik hat«, sagte ich, »aber er hängt mit Leib und Seele daran.«
Wir waren unterwegs zum Führring, wo sich bereits die Pferde für das nächste Rennen einfanden. Sie blieb abrupt stehen und sah mich unverhohlen feindselig an.
»Ihr Vater«, sagte sie gehässig, als würde sie am liebsten jedes Wort zu Glassplittern zerbeißen, »hat mich um mein Lebensziel gebracht. Ich bin es, die Hoopwestern im Parlament vertreten sollte. Ich war als Kandidatin vorgesehen, und ich hätte die Wahl gewonnen, was Ihrem Vater bei all seinem Männlichkeitswahn nicht gelingen wird.«
»Er wußte doch gar nicht, daß es Sie gibt«, sagte ich. »Die Parteizentrale in Westminster hat ihm gesagt, er soll in die Nachwahl gehen, wenn er aufgestellt wird. Er hatte nicht vor, Sie auszustechen.«
»Woher wissen Sie das?« fragte sie.
»Von ihm. Er gibt mir einen Intensivkurs in Politik, seit er mich vorigen Mittwoch zur Dekoration hierhergeschleppt hat. Er versteht Ihre Gefühle. Und überhaupt, wenn Sie auf seiner Seite wären und er dadurch gewählt würde, könnten Sie mit ihm vielleicht genausogut zusammenarbeiten wie mit Ihrem Mann.«
»Sie reden wie ein Kind«, sagte sie.
»Ja ... Verzeihung. Aber Ihre Arbeit für den Wahlkreis wird hier von allen gelobt.«
Statt verärgert oder sonstwie darauf einzugehen, lehnte sie sich an den Führringzaun, als wäre sie das schon gewohnt, und studierte wieder ihr Rennprogramm.
Nach einer Weile sagte sie: »Ihr Vater ist auf Macht aus.«
»Ja.« Ich schwieg. »Sie nicht auch?«
Die muskulösen Leiber ausgewachsener Steepler zogen an uns vorbei; Tiere, die über siebentausendzweihundert Meter -die Distanz des Grand National - eine Geschwindigkeit von fünfzig Stundenkilometern halten konnten. Kein Tier auf Erden übertraf ein Rennpferd an Tempo und Ausdauer. Darin lag für mich Stärke. Das war die Macht, an der ich teilhaben, die ich lenken und die ich nutzen wollte. Lieber Gott, dachte ich, hilf mir auf diesem Weg.
»Usher Rudd«, sagte Orinda, »wissen Sie, wen ich damit meine?«
»Ja.«
»Usher Rudd hat meinem Freund Alderney Wyvern gesagt -ehm, wer Alderney Wyvern ist, wissen Sie auch?«
»Ja.«
»Usher Rudd behauptet, daß George Juliard Sie nicht nur zu Unrecht als seinen ehelichen Sohn ausgibt, sondern daß Sie sein Buhlknabe sind.«
»Bitte?« Vielleicht war meine Verwunderung mir anzuhören. »Was ist denn ein Boule-Knabe?«
»Buhlknabe. Kennen Sie den Ausdruck nicht?«
»Nein.«
»Das ist ein Stricher ... ein junger Prostituierter.«
Ich war weniger empört als perplex. Ich mußte sogar lachen.
»Usher Rudd«, sagte Orinda warnend, »gräbt, bis er was hat. Nehmen Sie ihn nicht auf die leichte Schulter.«
»Aber ich dachte, er hätte es auf Paul Bethune abgesehen.«
»Ihm ist jeder recht«, sagte Orinda. »Und er lügt, wie er’s braucht. Es macht ihm Spaß, anderen das Leben zu ruinieren. Wenn er Geld dafür bekommt, um so besser, aber er tut’s auch umsonst. Ein Kind, das Schmetterlingen die Flügel ausreißt. Sind Sie George Juliards leiblicher Sohn?« »Ich sehe ihm schon ein bißchen ähnlich.«