Mervyn zog mit Plänen und Listen von einer Gruppe zur anderen. Morgen kam dieser, am Montag jener Wahlbezirk an die Reihe: Handzettel . Plakate . Hausbesuche . Keiner der siebzigtausend Wähler sollte um Juliard herumkommen.
Und das noch drei Wochen lang . Trotz meiner neuen Aufgabe, Gefahren abzuwenden, sah ich eher quälende als schöne Zeiten auf mich zukommen.
Aber ich hatte eingewilligt ... und mein Wort galt.
Ich aß Schokoladenkuchen. Immer noch keine Pizza.
Gegen Ende der Versammlung holte ich den Range Rover aus der Nebenstraße, in der ich ihn geparkt hatte, und war mir ganz sicher, daß an diesem Abend niemand daran herumgepfuscht hatte.
Foster Fordham hatte mir telefonisch ein paar einfache Tips gegeben. »Nehmen Sie immer eine Schachtel Waschpulver mit. Wenn Sie den Wagen abstellen, streuen Sie auf beiden Seiten eine dünne Linie Waschpulver vom Vorder- zum Hinterrad. Dann sehen Sie, ob in Ihrer Abwesenheit jemand den Wagen bewegt oder sich daruntergelegt hat. Verstanden?«
»Ja. Danke.«
»Schalten Sie immer die Alarmanlage ein und öffnen Sie den Wagen von weitem per Fernbedienung, auch wenn Sie nur kurz weg waren.«
Ich hatte seine Anweisungen genau befolgt, unser Ablaß-schraubenklauer hatte offensichtlich keine neuen Tricks versucht. Ohne Zwischenfall fuhr ich meinen Vater von dem Gemeindesaal zurück zum Wahlkampfbüro mit dem Erkerfenster und überließ ihn seinen endlosen taktischen Erörterungen mit
Mervyn, während ich den Range Rover in die Garage sperrte und im nächsten Schnellrestaurant endlich eine Pizza erstand.
Mervyn und mein Vater aßen zerstreut die Hälfte davon. Mervyn legte stapelweise Aufkleber und zu verteilende Handzettel bereit. Ja, meinte er auf meine Frage hin, selbstverständlich seien Nachwahlen unerhört aufregend, spannender könne es im ereignisreichen Leben eines Wahlkampfmanagers kaum werden. Und die Benefizparty für nächste Woche müsse noch unter Dach und Fach gebracht werden - schade, daß Orinda dafür diesmal nicht zuständig sei ...
Ich gähnte und ging, den beiden Älteren das Abschließen der Türen überlassend, nach oben; und ich erwachte mitten in der Nacht von starkem Rauchgeruch.
Rauch!
Ich richtete mich im Bett auf.
Mehr oder weniger instinktiv wälzte ich mich aus den Laken, schüttelte unsanft die reglose Gestalt im anderen Bett, rief: »Feuer!« und sprang zur angelehnten Zimmertür, um nachzusehen, ob meine schlimme Befürchtung wirklich zutraf.
Kein Zweifel.
Das untere Stockwerk stand in hellen, lodernden Flammen. Dicker Rauch drang herauf. Vom hinteren Büro hatte das Feuer bereits auf das Wohnzimmer im ersten Stock übergegriffen.
Ich schnappte in dem Qualm nach Luft, drehte mich auf dem Absatz herum und stürzte ins Bad. Wenn du alle Hähne aufdrehst, dachte ich, läuft das Wasser über und löscht mit. Ich stöpselte die Wanne und das Waschbecken zu, drehte sämtliche Hähne voll auf, warf ein Badetuch in die Kloschüssel und betätigte die Spülung. Schnappte mir das durchnäßte Handtuch, lief damit ins Schlafzimmer, sperrte den Rauch aus und dichtete die Ritze unter der Tür ab, all das in rasendem Tempo.
»Das Fenster«, rief ich. »Das verdammte Fenster klemmt.«
Es war mit Farbe wie zusammengeleimt, und mein Vater hatte sich seit Tagen darüber geärgert, daß es nicht aufging. Wir trugen nur Unterhosen, und es wurde immer heißer. »Die Treppe können wir nicht nehmen.« Kapiert er nicht? dachte ich. Wortlos ergriff er den einzigen Stuhl im Zimmer und ließ ihn ins Fenster krachen. Glas zerbrach, aber die Scheiben waren klein, und der Holzrahmen blieb ganz. Wir waren über dem Erkerfenster, das auf den Platz ging. Ein zweiter Schlag mit dem Stuhl ließ die Lagen alter Farbe platzen, und das Fenster flog nach beiden Seiten auf - aber unten hatte sich das Feuer schon durch das Erkerdach gefressen und schoß die Wand herauf.
Aus dem Erker des Trödelladens nebenan schlugen ebenfalls Flammen. Offenbar wütete das Feuer dort sogar schon länger und hatte bereits den Dachstuhl erreicht, denn über unseren Köpfen sprühten rote und goldene Funken in den Himmel.
Ich hastete zur Tür, dachte, es bliebe uns doch nur die Treppe, aber auch wenn das nasse Handtuch den Rauch weitgehend fernhielt, gegen Feuer half es nicht. Die Klinke war schon zu heiß zum Anfassen. Hinter der Tür war eine Flammenwand.
»Wir sind eingeschlossen«, rief ich grimmig. »Die Tür brennt.«
Mein Vater schaute mich kurz an.
»Versuchen wir unser Glück und springen. Zuerst du.«
Er stellte den ramponierten Stuhl ans Fenster und bedeutete mir, daraufzusteigen und möglichst weit hinauszuspringen.
»Erst du«, sagte ich.
Inzwischen waren Leute auf dem Platz und schrien, und die schrille Sirene eines Feuerwehrwagens kam näher.
»Schnell«, sagte mein Vater. »Diskutier jetzt nicht. Spring.«
Ich stieg auf den Stuhl und griff nach dem Fensterrahmen. Die Farbe verbrannte mir die Hand.
»Spring!«
Ich faßte es nicht: Er mühte sich in Hemd und Hose und zog den Reißverschluß zu.
»Na los. Spring!«
Ich setzte einen nackten Fuß auf den Rahmen, zog mich hoch und sprang mit aller Kraft meiner durchtrainierten Muskeln hinaus - flog durch die Flammen, die aus dem Erker schlugen, verfehlte die brennende Vorderfront nur um Zentimeter und krachte mit einer solchen Wucht auf das Kopfsteinpflaster, daß ich Sternchen sah. Ich hörte Leute schreien, spürte, wie ich gepackt und vom Feuer weggezogen wurde, versuchte aber, mich aus ihrem Klammergriff loszureißen, um den Sturz meines Vaters abzufangen. Ich hatte die Kraft nicht. Setzte mich auf den Boden. Konnte nicht einmal sprechen.
Unglaublicherweise blitzten Kameras. Die Not, die Lebensgefahr, in der wir uns befanden, wurde gefilmt! Ohnmächtiger Zorn stieg in mir auf. Empörung. Ich hätte heulen können. Zu Unrecht, nehme ich an.
Die einen riefen meinem Vater zu, er solle springen, die anderen, er solle nicht springen, sondern warten, bis die Feuerwehr da sei, die sich jaulend bereits einen Weg durch die Schaulustigen bahnte und ihre Gelbhelme ausspie.
»Noch nicht! Noch nicht!« wurde gerufen, als die Feuerwehrleute ihre mechanische Leiter ausfuhren, um an meinen Vater heranzukommen, doch der zeichnete sich im Fenster dunkel gegen einen glutroten Hintergrund ab. Er stand auf dem Stuhl -und die Tür hinter ihm brannte lichterloh.
Bevor die Leiter bei ihm war, rollten sonnenhelle Flammen durch das Zimmer, und er stieg auf den Fensterrahmen und warf sich hinaus, warf sich wie ich über das aus dem Erker hochlek-kende Feuer hinweg in die Dunkelheit, obwohl er wußte, daß er sich dabei den Hals brechen, den Schädel einschlagen konnte, zumal der Boden nicht zu sehen, die Entfernung nicht abzuschätzen, das Pflaster aber nur zu nah war. Knochenbrecherisch nah.
Eine Kamera blitzte.
Zwei Männer in gelben Astronautenanzügen und dicken Handschuhen rannten mit einem runden, trampolinähnlichen Sprungtuch aufs Haus zu. Keine Zeit, in Position zu gehen. Sie rannten einfach, mein Vater krachte in sie hinein, und alle landeten in einem Wirbel von Armen und Beinen am Boden. Helfer umdrängten sie und nahmen mir die Sicht auf das Gewirr, aber in den Beinen meines Vaters war Leben gewesen - und im Gegensatz zu vorhin hatte er Schuhe angehabt!
Ich war rußverdreckt, hatte bei der Landung auf dem Pflaster ein paar Prellungen und Kratzer abbekommen, spürte, obwohl ich noch benommen war, daß mir Tränen übers Gesicht liefen, und ich hustete und hatte Blasen an Händen und Füßen, aber das zählte alles nicht. In meinem Kopf war Lärm und Chaos. Ich hatte meinen Vater vor Gefahren schützen wollen und an einen Rauchmelder noch nicht einmal gedacht.
Seine Stimme sagte: »Ben?«