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Ich blickte verwirrt auf. Er stand vor mir; er lächelte sogar. Wie konnte er nur!

Männer in gelben Schutzanzügen rollten Schläuche auf und spritzten Unmengen von Wasser aus dem Tank in die brennenden Erker. Es gab Dampf, Rauch, doch die Flammen züngelten hartnäckig weiter. Man legte mir eine rote Decke um die Schultern und sagte mir, ich solle mir keine Gedanken machen. Ich wußte nicht recht, wer die Leute waren und worüber ich mir keine Gedanken machen sollte. Ich wußte eigentlich gar nichts.

»Ben«, sagte mein Vater mir ins Ohr, »du hast eine Gehirnerschütterung.«

»Hm?«

»Du bist offenbar mit dem Kopf aufgeschlagen. Kannst du mich hören?«

»Kein Rauchmelder. Meine Schuld ...«

»Ben!« Er schüttelte mich. Man riet ihm davon ab.

»Ich sorge dafür, daß du gewählt wirst«, sagte ich.

»Himmel.«

Vertraute Gesichter kamen in mein Blickfeld und verschwanden wieder. Ich wunderte mich, daß sie mitten in der Nacht komplett angezogen herumliefen, bis ich erfuhr, daß es erst zwanzig nach elf war und nicht fünf vor vier. Ich war früh schlafen gegangen und hatte die Zeiger verwechselt, als ich wachgeschreckt, fast unbekleidet, mit der Uhr am Arm aus dem Fenster gesprungen war.

Amy war da, rang die Hände und weinte. Weinte um ihren zu Asche gewordenen Trödel, das noch immer unverkaufte, jetzt unwiederbringlich verlorene Wandgestell. Was ist eine Etagere, Amy? Ein Eckenfüller, eine Art Regal mit vielen kleinen Fächern zum Verwahren von Tellern, Fotos und allem möglichen Kram.

Auch Gewehrkugeln?

»Ach herrje«, sagte sie. »Die Kugel hatte ich noch in der ollen Strickjacke im Laden, und jetzt ist sie hin, aber was soll’s, es war ja doch nur ein Klümpchen Blei.«

Mrs. Leonard Kitchens klopfte mir tröstend auf die Schulter. »Lassen Sie nur, Junge, in dem ganzen Bunker war ja doch nur Plunder und Papier. Flugblätter. Weiter nichts! Mein Leonard ist auch da. Haben Sie ihn gesehen? Für ein ordentliches Feuer ist er immer zu haben, aber jetzt ist der Zauber ja vorbei. Ich will nach Hause.«

Usher Rudd fixierte seine Beute im Krebsgang, sah in den Sucher, trat zurück und knipste. Er grinste auf meine Wolldecke herab, stellte in Ruhe den Bildausschnitt ein, prüfte die Schärfe.

Blitz.

Der Kameramann des Lokalfernsehens kam mit stärkerer Beleuchtung, aber das Feuer brannte immer noch heller.

Mervyn rang die Hände wegen der Stapel verbrannter JULIARD-Zettel. Er war kaum eine halbe Stunde daheim gewesen, als ihn jemand wegen des Brandes im Trödelladen angerufen hatte.

Crystal Harley kniete neben mir, tupfte mit Papiertaschentüchern Blut von meinem Gesicht und sagte besorgt: »Da komme ich wohl besser morgen mal zur Arbeit.«

Paul und Isobel Bethune hielten mit ihrem Auto in der Fußgängerzone. Im Notfall galten andere Regeln, meinte der Herr Stadtrat, drängte sich, ernste Besorgnis im Blick, zu meinem Vater durch, begrüßte ihn brüderlich und hatte für jeden einzelnen Feuerwehrmann ein Wort der Anerkennung.

Isobel fragte mich leise, ob es mir gut gehe.

»Natürlich nicht!« fuhr Crystal sie an. »Er ist durch die Flammen gesprungen und aufs Pflaster geknallt. Was erwarten Sie denn?«

»Und, ehm . sein Vater?«

»Sein Vater kommt ins Parlament«, sagte Crystal.

Es lebe die Politik, dachte ich.

»Paul war auf einer Versammlung«, sagte Isobel. »Als er von dem Brand hörte, hat er mich zu Hause abgeholt, weil ich ja vielleicht auch was tun kann. Es sieht immer besser aus, wenn ich dabei bin, meint er.«

Wasser schoß aus dem schweren Schlauch, zischte durch die Flammen, lief wieder aus dem Gebäude heraus und schwappte aufs Pflaster. Mich fröstelte unter der naß gewordenen roten Decke.

Ein zweiter Löschzug auf der Rückseite schickte gewaltige Fontänen übers Dach, so daß die beiden glitzernden Wasserfälle sich vereinten und gemeinsam als monströser Regen niedergingen. Plunder und Flugblätter ein Glutmeer; draußen zwei zitternde, verletzliche Wesen.

Die Gelbhelme richteten ihre Schläuche verschwenderisch auf die noch dunklen Gebäude neben den brennenden Läden, und schließlich ging den wütenden Flammen zwangsläufig die Nahrung aus, sie wurden schwächer, fauchten nur noch, wo sie vorher brüllten, gaben den Kampf auf und räumten das Feld, so daß nicht mehr Funken, sondern Flocken heißer Asche auf den Platz herabrieselten und zwar noch beißender Brandgeruch, aber keine Hitze mehr auf die Sinne eindrang.

Irgendwer holte den Arzt, der sich drei Tage zuvor den Fuß meines Vaters angesehen hatte; er leuchtete mir in die Augen und die Ohren, betastete die Beule an meinem Kopf, deckte die Brandblasen gut ab, damit sie nicht aufgingen und sich entzündeten, und teilte Vaters Auffassung, daß es genügte, wenn ein so gesunder junger Mann am nächsten Morgen noch einmal zu ihm kam.

Für die angebrochene Nacht besorgte uns mein Vater, an das Mitgefühl des Direktors appellierend, ein Zimmer im Schlafenden Drachen, und die Frau des Direktors besorgte mir etwas zum Anziehen.

»Sie Ärmster ... Sie Ärmster ...« Es machte ihr Spaß, uns zu bemuttern, aber auch die Reporter der Londoner Tageszeitungen, die sich am nächsten Tag die Klinke in die Hand gaben, empfingen sie und ihr Mann mit offenen Armen.

Usher Rudds wirklich gelungene Aufnahme meines Vaters beim Sprung aus dem Fenster des brennenden Zimmers erschien auf der Titelseite nicht nur der Hoopwestern Gazette und des nächsten Quindle Diary (Juliard IM Pech), sondern jeder großen überregionalen Zeitung (JULIARDS LUFTSPRUNG), zusammen mit den schnell erzählten Fakten, denen unzählige Kommentare, Einschätzungen und Ausdeutungen auf dem Fuß folgten.

Die Leute sagen einem immer, was man hätte tun sollen. Sie sagen einem, was sie getan hätten, wenn sie mitten in der Nacht von einem Brand im Stockwerk unter ihnen aufgewacht wären.

Sie sagen, daß man als allererstes selbstverständlich die Feuerwehr ruft, aber wie man die rufen soll, wenn das einzige Telefon unten steht, wo das Feuer tobt, behalten sie für sich. Wie soll man die Feuerwehr rufen, wenn die Telefonleitung durchgeschmort ist?

Hinterher kann jeder logisch denken, aber in der Hitze, dem Qualm, dem Lärm und der Gefahr ist klares Denken so gut wie ausgeschlossen.

Unüberlegtes Handeln in Gefahrensituationen wird gern als »Panik« bezeichnet und als solche verziehen, dabei hat es weniger mit Panik, mit übermäßiger Furcht zu tun als damit, daß die Zeit fehlt, genau nachzudenken.

Vielleicht hätten mein Vater und ich anders gehandelt, wenn uns das Ganze als Denksportaufgabe vorgesetzt worden wäre, für die es eine richtige und eine falsche Lösung gab.

Vielleicht hätten wir die Matratzen aus dem Fenster werfen sollen, um damit unseren Sturz abzufangen. Wenn sie durch das Fenster gepaßt hätten. Jedenfalls wären wir beide fast umgekommen, und daß wir beide noch lebten, war mehr Glück als Verstand.

Mit Anziehen darf man keine Zeit verlieren, sagen sie einem. Besser nackt in dieser Welt, als angezogen in der nächsten. Aber »sie«, wer immer das nun ist, sind sicher nie im vollen Rampenlicht gesprungen.

Ich dachte nachher, ich hätte schnell meine Jacke und meine Reitkappe aus dem brennenden Wohnzimmer holen sollen, statt mich mit den Wasserhähnen abzugeben. Und ich hätte mir Handtücher um Hände und Füße wickeln sollen, bevor ich auf die Fensterbank gestiegen war.

Aber ich glaube nicht, daß meinen Vater die lebensgefährlichen Sekunden, die er darauf verwandte, Hemd und Hose anzuziehen, je gereut haben. Selbst als es um Leben und Tod ging, war ihm klar gewesen, daß ihn ein Foto, auf dem er sich halbnackt vor den Flammen rettete, seine ganze Laufbahn hindurch verfolgen würde. Noch im Augenblick größter Gefahr hatte er daran gedacht, wie wichtig ein sicheres Auftreten war. Ganz gleich, was Usher Rudd in Zukunft alles ausgrub - George Juliard war und blieb der geistesgegenwärtige Mann auf Seite 1, der in der Not den Kopf behielt und sich die Schuhe anzog.