»Natürlich nicht.«
»Woher hatte es dann die Gazette?«
Ich starrte ihn an und sagte langsam: »Von Usher Rudd.«
Er nickte.
»Hast du mir nicht erzählt, daß dieser Automechaniker - Terry oder wie er hieß - rausgeflogen ist, weil Usher Rudd sein Bettgeflüster mit einem Gerät belauscht hat, das anhand von Schwingungen im Fensterglas Stimmen aufzeichnet?«
»Usher Rudd«, fuhr ich auf, »will nachweisen, daß ich nicht dein Sohn bin.«
»Laß ihn doch, da fällt er auf die Nase.«
»Orinda schleicht er auch nach, von den Bethunes nicht zu reden.«
»Der denkt, wenn er genügend Dreck schleudert, bleibt schon irgendwas hängen. Du darfst ihm keinen Angriffspunkt bieten.«
In den nächsten Tagen stellte sich heraus, daß Orindas Kehrtwende in Hoopwestern selbst am stärksten einschlug, in Quindle schon weniger und in den vielen verstreuten Dörfern mit eige-nem Kirchturm, Telefonhäuschen und ein, zwei Kneipen so gut wie gar nicht. Daheim und in der näheren Umgebung wurde sie begeistert beklatscht, aber den Leuten in beispielsweise Middle Lampfield (637 Einw.) entlockte die Ankündigung ihres Besuchs gerade mal ein höfliches: »Mhm«, bevor sie sich wieder dem heimischen Apfelwein zuwandten.
Im ganzen Wahlkreis wurde mehr Apfelwein als Babynahrung konsumiert, und daß mein Vater den schaumigen Most ausgezeichnet vertrug, brachte ihm Sympathien ein. Jeden Mittag klapperten wir die Kneipen ab (ich fuhr), und immer wieder bekam ich das gleiche Fazit zu hören. »Ein guter Mann, Ihr Vater, der weiß, was bei uns auf dem Land gebraucht wird. Ich glaube, ich wähle ihn. Dieser Bethune, der so hoch gehandelt wird, ist doch ein Stadtrat, und damit können die uns hier den Buckel runterrutschen.«
Mein Vater brachte sie zum Lachen. Er kannte die Heupreise. Sie wären mit ihm zum Südpol gegangen.
Orinda hielt die Dörfer für Zeitverschwendung, und Mervyn ebenso.
»Das Gros der Stimmen sitzt in den Kleinstädten«, dozierten sie. Dennis Nagle war besonders in Geschäftskreisen beliebt gewesen.
»Man wählt den Mann, mit dem man Dart spielt«, sagte mein Vater und verfehlte Doubletop. »Ich zahle mein Glas, sie zahlen ihres. Keiner ist dem anderen verpflichtet.«
Orinda mochte keinen Apfelwein, und sie hielt nichts von Kneipen. Lavender mochte überraschenderweise beides; also grasten mein Vater, Lavender und ich mehrere Tage lang die Gegend mit dem silber- und goldverzierten Range Rover ab und bekehrten, wie mein Vater sagte, möglichst jeden erreichbaren Wähler.
In der Woche darauf war es Orinda, die beinah ihr Leben ließ.
Kapitel 7
Am Dienstag der letzten vollen Stimmenwerbungswoche brachte ein Lieferwagen endlich mein Fahrrad und die Kiste mit den Habseligkeiten, die ich bei Mrs. Wells zurückgelassen hatte.
Im Hotelzimmer oben stöberte Vater interessiert in den dürftigen Relikten meines Lebens: zwei Ehrenpreise für an Ostern gewonnene Amateurrennen, etliche Fotos von mir zu Pferd und auf Skiern, Schulfotos wie etwa ein steifes Gruppenbild der Schützenmannschaft, deren Kapitän einen Pokal in den Armen hielt. Bücher über Mathematik und über berühmte Rennreiter. Auch Kleider, aber nicht so viele, da ich zu meinem Leidwesen immer noch wuchs.
Vater suchte meinen Reisepaß, meine Geburtsurkunde und das gerahmte Foto seiner Hochzeit mit Mutter heraus. Er nahm das Bild aus dem Rahmen, und nachdem er es minutenlang betrachtet hatte, strich er mit dem Finger über ihr Gesicht und seufzte tief, für mich das erstemal, daß er erkennen ließ, wie nah ihm der Verlust ging.
Unüberlegt sagte ich: »Weißt du noch, wie sie war? Würdest du sie erkennen, wenn sie jetzt ins Zimmer käme?«
Er warf mir einen so freudlosen Blick zu, daß mir klar wurde, ich hatte eine unverzeihlich vorwitzige Frage gestellt, aber dann sagte er nur: »Die erste vergißt man nie.«
Ich schluckte.
Er sagte: »Hattest du schon deine erste?«
Ich wand mich, konnte vor Verlegenheit kaum sprechen, sagte schließlich aber wahrheitsgemäß: »Nein.«
Er nickte. Es war ein Augenblick nahezu unerträglicher Intimität, der erste überhaupt zwischen uns, aber er blieb völlig sachlich und ruhig und ließ mir Zeit, mich zu fassen.
Er sah einige Papiere durch, die er kürzlich aus London mitgebracht hatte, steckte sie zusammen mit meinen Identitätsnachweisen in seine Aktentasche, ließ die Schlösser zuschnappen und erklärte, wir würden der Hoopwestern Gazette einen Besuch abstatten.
Genaugenommen besuchten wir den Chefredakteur, der zugleich auch Herausgeber und Inhaber der Gazette, der einzigen lokalen Tageszeitung, war. Ein Mann in Hemdsärmeln, gestreßt, mittleren Alters und dem Tenor seiner Titelseiten nach ein Kritteler. Er stand von seinem Schreibtisch auf, als wir hereinkamen.
»Mr. Samson Frazer«, nannte Vater ihn beim Namen, »als wir neulich abends miteinander sprachen, haben Sie mich gefragt, ob ich meine Wähler für blöd halte.«
So bedeutend Samson Frazer in Hoopwestern sein mochte, er hatte nicht das Format meines Vaters. Interessant, dachte ich.
»Ehm ...«, sagte er.
»Wir kommen darauf zurück«, erklärte ihm Vater. »Zuerst möchte ich Ihnen etwas zeigen.«
Er klappte die Aktentasche auf.
»Schauen Sie, was ich Ihnen mitgebracht habe«, sagte er und legte die Dokumente der Reihe nach vor den Redakteur hin. »Meine Heiratsurkunde. Die Geburtsurkunde meines Sohnes. Seinen und meinen Reisepaß. Ein Foto von meiner Frau und mir, aufgenommen vor dem Standesamt nach unserer Heirat. Auf der Rückseite« - er drehte das Foto um - »finden Sie Name und Copyrightvermerk des Fotografen sowie das Datum. Und hier ist der Totenschein meiner Frau. Sie ist an Komplikationen nach der Geburt unseres Sohnes gestorben. Unseres Sohnes Benedict hier, der mein einziges Kind ist und mir in diesem Wahlkampf zur Seite steht.«
Der Redakteur warf mir einen raschen Blick zu, als hätte er mich jetzt erst wahrgenommen.
»Sie beschäftigen einen gewissen Usher Rudd«, sagte mein Vater. »Den sollten Sie mit Vorsicht einsetzen. Er legt es anscheinend darauf an, Zweifel an der Identität und der ehelichen Geburt meines Sohnes auszustreuen. Da soll er dreiste Anspielungen gemacht haben.«
Er fragte den Redakteur, woher er das mit den »blöden« Wählern habe, eine Wendung, die wir nur spaßeshalber und unter vier Augen in unserem Hotelzimmer gebraucht hätten.
Samson Frazer erstarrte wie ein hypnotisiertes Kaninchen.
»Wenn es sein muß«, sagte Vater, »schicke ich Haarproben zum Gentest ein. Haare von mir, von meinem Sohn und von meiner Frau - aus einer Locke, die sie mir geschenkt hat. Ich hoffe, Sie denken gut über alles nach, was ich Ihnen gesagt und Ihnen gezeigt habe.« Methodisch räumte er die Sachen wieder in seine Aktentasche. »Denn falls die Hoopwestern Gazette die Herkunft meines Sohnes in Zweifel ziehen sollte«, fuhr er freundlich fort, »dürfen Sie sicher sein, daß ich das Blatt und Sie persönlich wegen Verleumdung und Beleidigung verklage, und dann wären Sie vielleicht froh, Sie hätten es bleibenlassen.« Er verschloß die Aktentasche so heftig, daß daraus selbst schon eine Drohung klang.
»Haben Sie verstanden?« fragte er.
Der Redakteur sah ganz so aus.
»Gut«, sagte mein Vater. »Wenn Sie mich bei einer unsauberen Geschichte erwischen, geht das in Ordnung. Wenn Sie aber eine konstruieren, hänge ich Sie an den Zehen auf.«
Samson Frazer fiel dazu nichts ein.
»Guten Tag, Sir«, sagte mein Vater.
Auf dem Rückweg ins Hotel war er in Hochstimmung, und er summte auf dem Weg nach oben.
»Was hältst du davon«, meinte er, »wenn wir einen Pakt schließen?«
»Was für einen Pakt?«