Irgendwie liebte ich ihn schon sehr.
Ich fühlte mich völlig außerstande, an seine innere Kraft und seine Entschlossenheit jemals heranzureichen. Es dauerte Jahre, bis ich dahinterkam, daß ich das nicht brauchte.
Am Morgen nach seiner Antrittsrede nahm ich den Frühzug von Paddington nach Exeter und rauschte vom Ruhm, in dem ich mich eben noch gesonnt hatte, schnurstracks in die Anonymität.
In Exeter schlug ich mich als einer von achttausend dort wohnenden Studenten durch, ohne groß Aufmerksamkeit zu erregen, und vertiefte mich in Kalküle, lineare Algebra, Versicherungsstatistik und Wahrscheinlichkeitstheorie für ein Diplom in Mathematik und Betriebswirtschaft; und da ein kurzer Sprachkurs im Studium mit inbegriffen war, konnte ich meinen auf piste und ecurie (Bahn und Stall) beschränkten FranzösischWortschatz ein wenig ausbauen.
Sooft es ging, fuhr ich mit dem Rad zu Stallworthy, um Sarah’s Future zu reiten, und samstags führte ich ihn manchmal in die Startmaschine. Nach den Anfangserfolgen als Siegloser wurde es schwierig, Rennen zu finden, die ein beständiger, aber nicht herausragender Springer gewinnen konnte, doch ich war auch mit einem Ergebnis unter »ferner liefen« zufrieden: vierter, fünfter, sechster Platz, ein harmloser Sturz und niemals abgeschlagen.
An einem sehr kalten Samstag im Dezember, gegen Ende meines ersten Quartals, stand ich in Taunton auf der Tribüne und sah zu, wie ein Pferd von Stallworthy als Erster die letzte Hürde anging, daran hängenblieb, in einem Wirbel dreschender Beine stürzte und sich das Genick brach.
Die Unglücksstelle wurde abgeschirmt, das Tier mit einem Kran entfernt, und keine zehn Minuten später stieß ich auf Stallworthy, wie er versuchte, die Besitzerin zu trösten. Frauen, die weinten, waren nicht seine Spezialität. Hol mir Jim, sagte er, kam aber gleich wieder davon ab, vertraute die Weinende kurzerhand mir an und bat mich, mit ihr etwas trinken zu gehen.
Viele Trainer wurden blaß und schwach, wenn ihnen Pferde starben. Stallworthy zuckte die Achseln und strich eine Seite durch.
Mrs. Courtney Young, die betroffene Besitzerin, trocknete ihre Tränen und entschuldigte sich dafür, während ein doppelter Gin seine Wirkung tat.
»Das ist doch verständlich«, versicherte ich ihr. »Hätte ich mein Pferd verloren, wäre ich am Boden zerstört.«
»Aber Sie sind noch so jung. Sie kämen darüber weg.«
»Das kommen Sie sicher auch, mit der Zeit.«
»Sie verstehen nicht.« Wieder flossen die Tränen. »Ich habe die Versicherung für das Pferd verfallen lassen, weil ich die Prämie nicht aufbringen konnte, und Mr. Stallworthy schulde ich noch einen Haufen Trainingsgebühren; ich war sicher, daß mein Pferd heute gewinnt und ich meine Schulden begleichen kann - ich habe bei einem Buchmacher, bei dem ich ein Konto habe, darauf gewettet, und wovon soll ich den jetzt bezahlen? Ich hätte mein Pferd sowieso verkaufen müssen, wenn es verloren hätte, und jetzt geht das noch nicht mal .«
Arme Mrs. Courtney Young.
»Sie ist verrückt«, meinte Jim später zu mir, als er Sarah’s Future sattelte. »Sie wettet zuviel.«
»Was macht sie denn jetzt?«
»Was sie jetzt macht?« rief er aus. »Sie wird noch ein paar Erbstücke verkaufen. Sich ein neues Pferd zulegen. Bis sie eines Tages alles verliert.«
Ich grämte mich nur kurz um Mrs. Courtney Young, aber am selben Abend rief ich meinen Vater an und empfahl ihm, Sarah’s Future zu versichern.
»Wie lief es heute?« fragte er. »Ich habe die Rennergebnisse gehört, und du warst nicht unter den ersten drei.«
»Vierter. Was ist mit der Versicherung?«
»Wer versichert denn Pferde?«
»Weatherbys.«
»Und du bist dafür?«
»Deinetwegen«, sagte ich.
»Dann schick mir den Papierkram.«
Weatherbys, das Unternehmen, das Versicherungen für Pferde abschloß, war die für den gesamten Galopprennsport zuständige Verwaltungsbehörde. Weatherbys führte ein Archiv, erfaßte die Namen der Pferde und Angaben über die Besitzer, bis hin zu den Rennfarben; an Weatherbys schickten die Trainer ihre Nennungen für die Rennen; Weatherbys gab jeweils die Starterbestätigung und informierte die Presse über Rennausschreibungen, Weatherbys druckte über Nacht farbige Rennprogramme und lieferte sie morgens an die Rennbahnen aus.
Weatherbys veröffentlichte die Renntermine, führte das Gestütbuch für die Vollblutzucht und überwies als zentrale Verrechnungsstelle das Reitgeld an die Jockeys, Geldpreise an die Besitzer, alles an jeden. Weatherbys verfügte über eine sichere Datenbank.
Eigentlich ging im Rennsport nur wenig ohne Weatherbys.
Wegen der verrückten, verheulten, dummen Mrs. Courtney Young kam ich auf die Idee, mich eines fernen Tages vielleicht bei Weatherbys um eine Stelle zu bewerben.
Im Frühling meines dritten Jahrs in Exeter kam Vater mich (wie schon einige Male vorher) besuchen, und zu meiner Überraschung brachte er Polly mit.
Ich hatte in den Weihnachtsferien jeweils eine Woche mit Skilaufen verbracht (gut für mein Französisch!), und ich ritt in jeder freien Minute, aber da ich auch studierte und wenn nicht mit Auszeichnung, so doch mit annehmbaren Noten durch alle Klausuren und Prüfungen kam, konnte ich ihm ruhigen Gewissens gegenübertreten und ihm (so weit waren wir inzwischen doch) mit unkomplizierter Freude die Hand geben.
»Weißt du eigentlich«, sagte mein Vater, »daß jetzt bald Parlamentswahlen sind?«
Mein erster Gedanke war: »O Gott, nein!« Ich sprach das zwar nicht aus, aber es stand offensichtlich in meinem Gesicht zu lesen.
Die liebe Polly lachte, und Vater sagte: »Diesmal sollst du nicht mit auf Stimmenfang gehen.«
»Du brauchst doch einen Leibwächter.«
»Ich habe einen Profi engagiert.«
Sofort war ich eifersüchtig - absurd. Erst nach gut zehn Sekunden brachte ich es fertig zu sagen: »Hoffentlich schützt er dich auch.«
»Es ist eine Sie. Alle möglichen Kampfsportgürtel.«
»Mhm.« Ich warf einen Blick auf Polly, aber ihr war nichts als Güte anzusehen.
»Polly und ich«, sagte mein Vater, »tragen uns mit der Absicht zu heiraten. Wir wollten hören, ob du was dagegen hast.«
»Ich habe überhaupt nichts dagegen«, sagte ich. »Im Gegenteil.«
Ich küßte sie auf die Wange.
»Du meine Güte«, staunte sie. »Du bist ja noch mehr gewachsen.«
»Wirklich?« fragte Vater interessiert. »Das ist mir nicht aufgefallen.«
»Der letzte Schub«, seufzte ich. »Ich bin drei Zentimeter größer und acht Kilo schwerer als in Hoopwestern.« Zu kräftig, hätte ich hinzufügen können, um es als Jockey weit zu bringen, aber beste Voraussetzungen für einen Amateurrennreiter.
Polly selbst hatte sich nicht verändert, wenn ich auch mit Interesse sah, daß sie statt des knallroten Lippenstifts jetzt einen scharlachroten trug, der ihr genauso schlecht stand. Ihre Kleider waren immer noch unter Flohmarktniveau, und ihre Haare hatten schon länger keine Schere mehr gesehen. Mit ihrem länglichen Gesicht und der hageren, sehnigen Gestalt paßte sie äußerlich gar nicht zu meinem immer kräftiger werdenden Vater, aber sie strahlte die gleiche große Güte aus wie immer und eine Herzlichkeit, in der mir jetzt ein Anflug von Belustigung zu liegen schien. Sie hatte nie etwas Linkisches oder Befangenes an sich gehabt, sondern war einfach stark und intelligent genug, kompromißlos sie selbst zu sein.