Mist, dachte ich. Nun ja.
Zu meiner großen Überraschung bekam ich auch einen Brief von Sir Vivian Durridge:
Mein lieber Benedict,
mit Freude habe ich gesehen, daß Sie in den vergangenen drei Jahren auf Sarah ’s Future, dem Pferd Ihres Vaters, wiederholt als Amateurrennreiter zum Erfolg gekommen sind. Wie er Ihnen sicher erzählt hat, sollte ich ihm damals helfen, Ihnen klarzumachen, daß Sie nicht dazu geschaffen waren, ein Hindernisjockey der Spitzenklasse zu werden. Inzwischen finde ich, es war unnötig brutal von mir, Ihnen Drogenmißbrauch vorzuwerfen, denn ich wußte genau, daß einer wie Sie damit nichts zu tun hat, doch an dem bewußten Morgen hatte ich - leider - den Eindruck, nur so könnte man Sie dazu bringen, daß Sie alles hinschmeißen und, wie Ihr Vater es wollte, studieren. Jetzt habe ich von einem Freund bei Weatherbys gehört, daß Sie sich dort um eine Anstellung beworben haben. Ich lege die Kopie eines Briefes bei, den ich an Weatherbys geschrieben habe, und hoffe, ich kann damit einiges zwischen uns wieder in Ordnung bringen.
Herzlich, Ihr Vivian Durridge
Die Anlage lautete:
An die Zuständigen:
Benedict Juliard hat als sechzehn- und siebzehnjähriger Amateur meine Pferde geritten. Ich habe ihn in jeder Beziehung als absolut vertrauenswürdig erlebt und würde ihn für jeden Posten, um den er sich bewirbt, uneingeschränkt empfehlen.
Das Blatt Papier in zitternden Händen, setzte ich mich. Vivian Durridge wäre so ungefähr der letzte gewesen, den ich um eine positive Beurteilung gebeten hätte.
Ich war mir noch unschlüssig gewesen, wo ich meine Geburtsurkunde hintun sollte, damit sie nicht verlorenging, wenn
ich mal wieder umzog. Am sichersten dafür schienen mir Vaters Hochzeitsfotos zu sein, denn die würde ich auf keinen Fall wegkommen lassen, und da ich gerade beschlossen hatte, die Geburtsurkunde hinter dem gerahmten Bild von Vater und Polly zu verwahren, als der bemerkenswerte Brief von Vivian Durridge kam, legte ich ihn gleich mit ein.
Drei Tage darauf brachte die Post einen Brief mit dem Firmenemblem von Weatherbys, ein Hengst unter einer Eiche in Miniatur, nach einem Gemälde von George Stubbs.
Ich hatte Angst, ihn zu öffnen. »Wir bedauern ...«, würde es heißen.
Nun, es mußte sein.
Ich riß den Brief auf, und da stand: »Wir freuen uns ...«
Wir freuen uns.
Am selben Abend rief mein Vater an. »Stimmt es, daß du dir eine Stelle bei Weatherbys besorgt hast?«
»Ja. Woher weißt du?«
»Warum hast du mich nicht um Hilfe gebeten?«
»Habe ich nicht dran gedacht.«
»Du bringst mich zur Verzweiflung, Ben.« Er hörte sich aber nicht sonderlich verstimmt an.
Er habe bei einem Geschäftsessen mit jemand vom Weather-by-Clan gesprochen, sagte er. Der Insiderklatsch in London übertreffe das Internet bei weitem.
Ich fragte ihn, ob ich Sarah’s Future mitnehmen könnte, wenn ich aus Devon wegzog.
»Such dir einen Trainer.«
»Danke.«
Spencer Stallworthy maulte. Jim zuckte die Achseln: das Leben war immer im Fluß. Ich verabschiedete mich dankbar von ihnen und gab meinem Fuchs ein neues Zuhause.
Weatherbys brachte mich in der technischen Abteilung unter, die für Nennungen, Starter, Gewichte, Reiter und Startnummern zuständig war - für sämtliche Details jedes einzelnen Rennens in Großbritannien, so daß an den meisten Tagen rund tausend Transaktionen zusammenkamen, mitunter auch bis zu dreitausend.
Abgewickelt wurde das alles mit elektronischer Geschwindigkeit in luftigen, offenen Räumen und in der gelassenen Stille, die mich bei meinem ersten Besuch so beeindruckt hatte. Gerade erst einundzwanzig geworden, hatte ich befürchtet, altersmäßig vielleicht im Nachteil zu sein, aber die ganze Belegschaft war jung und offensichtlich mit Freude dabei. Nach einem Monat konnte ich mir nicht mehr vorstellen, woanders zu arbeiten.
Immer wieder tauchte mein eigener Name auf, nicht nur, wenn ich ein Rennen ritt, sondern auch bei den Kollegen nebenan, die die Besitzerdatei führten.
Man scherzte gern über mich: »He, Juliard, wenn du den Klepper in Fontwell wieder reitest, kriegt er sieben Pfund aufgebrummt«, oder »He, Juliard, in Ludlow hast du das Pferd erdrückt. Iß nicht so viel Pudding!«
Sarah’s Future genoß, soweit ich es beurteilen konnte, die frischeren nördlichen Winde mindestens so sehr wie die milde Luft von Devon. Wie immer begrüßte er mich wild und schnaubte durch die breiten schwarzen Nüstern, wenn ich morgens antanzte, und fand es ganz normal, wenn ich ihm meinen Arm um den Hals legte und ihm ehrlich sagte, er sei ein toller Kerl.
Wer glaubt, daß Mensch und Tier im Bewußtsein wahrhaft eins werden können, macht sich vermutlich etwas vor, aber nach mehreren Jahren gemeinsam erlebter Geschwindigkeit waren der Fuchs und ich uns wahrscheinlich so nahe, wie die Beziehung zwischen verschiedenen Arten es überhaupt zuläßt.
Eines Samstags, ungefähr ein Jahr nach meinem Einstieg bei Weatherbys, traten das Pferd und ich in Towcester zu einem normalen Jagdrennen über 4800 Meter an, wobei die unauffälligen Farben meines Vaters, Gold und Grau, in dem anhaltenden Nieselregen ziemlich untergingen.
Niemand im Publikum schien hinterher genau zu wissen, was passiert war. Von meinem Standpunkt aus hatten wir am Anstieg vor der Zielgeraden präzise zum Sprung über einen großen, offenen Graben angesetzt. Ein anderes Pferd stolperte, krachte in uns hinein und brachte Sarah’s Future völlig aus dem Gleichgewicht. Er war dieses Hindernis in den vergangenen Jahren etliche Male glatt gesprungen; weder er noch ich rechneten mit einem Unglück. Die Füße wurden ihm zur Seite gefegt. Er schlug lang hin und warf mich nach vorn ab. Es war eine dieser knallharten Landungen, bei denen man sofort weiß, daß etwas gebrochen ist, bloß nicht genau, was. Ich hörte es knacken. Ich rollte ab und zog den Kopf ein, um ihn vor den Hufen der noch kommenden Pferde zu schützen. Das restliche Feld der Halbtonner klapperte über mich hinweg, während ich bang und atemlos auf dem glitschigen Gras lag, Halme im Mund, Halme in der Nase, und im unkontrollierbaren Wegrutschen noch die Rennbrille verlor.
Das Kampfgetümmel entfernte sich zum nächsten Sprung hin. Zwei Pferde und zwei Reiter hatten damit nichts mehr zu tun. Das Pferd, das Sarah’s Future gerammt hatte, rappelte sich unsicher auf und trottete wie benommen davon, während sein abgesetzter Reiter sich über mich beugte und sich mit der Frage: »Alles klar, Mann?« nach bestem Wissen entschuldigte.
Ich ließ mich von ihm hochziehen und stellte fest, daß der Bruch irgendwo in meiner Schulter saß.
Sarah’s Future, der ebenfalls wieder auf den Beinen war, versuchte aufzutreten, humpelte aber nur im Kreis. Er konnte das eine Vorderbein nicht belasten. Ein Helfer faßte ihn am Zügel und hielt ihn fest.
In hilfloser Liebe zu dem Pferd ging ich hin und wollte, es wäre nicht wahr, es könnte nicht sein, daß unser enges Miteinander ein so jähes Ende fand.
Wie jeder halbwegs erfahrene Reiter wußte ich, daß nichts mehr zu machen war. Sarah’s Future mußte, wie Sarah selbst, Abschied nehmen von dieser Welt.
Ich weinte. Ich konnte nicht anders. Es sah wie Regen aus. Das Pferd hatte sich das linke Vorderbein gebrochen. Sein Reiter das linke Schlüsselbein.
Das Pferd starb.
Der Reiter blieb am Leben.
Kapitel 10
Mein Vater hatte die Versicherung für Sarah’s Future verfallen lassen, als ich bei Weatherbys anfing; einmal, weil das Pferd alterte und an Wert verlor, und zum anderen gerade, damit Weatherbys nicht zahlen mußte, wenn es ums Leben kam.