»Ohne dich bin ich aufgeschmissen«, sagte ich.
»Du kannst mich jederzeit anrufen.« Sein Vogelkopf inspizierte die nun nicht mehr persönlich gestaltete Raumhälfte. »Wirst du aber nicht tun. Du entscheidest schon selbst. Wenn dir irgend jemand das nicht zutrauen würde, bekämst du meine Stelle nicht.«
Nachdem er mit vielen Runden Bier verabschiedet war, nutzte ich den Sommer, um erst vorsichtig, dann immer entschlossener neue Verantwortlichkeiten zu übernehmen, legte innerhalb von sechs schnell vergehenden Monaten das Image des großen Jungen völlig ab und gewann an Selbstbewußtsein, vielleicht auch an Kompetenz, bis der Mensch aus mir geworden war, der ich fortan bleiben würde.
Als ich Polly davon erzählte, meinte sie, die Veränderung sei offensichtlich und ich hätte Glück - manche Leute wüßten noch nicht einmal mit dreißig, wer sie seien.
Mein Vater, der schon mit neunzehn gewußt hatte, wer er war, hatte im Frühsommer seine Position im Kabinett untermauert und den Neid seiner Kollegen durch gewissenhaftes Arbeiten in Anerkennung, wenn nicht Bewunderung verwandelt. George Juliard war eine feste politische Größe.
Ich fragte ihn nach Alderney Wyvern.
Vater zog die Stirn in Falten. »Ich habe ihn seit Weihnachten nicht mehr gesehen, aber er ist noch da, und der Premier läßt immer noch nichts auf ihn kommen. Ich würde sagen, sowohl Hudson Hurst wie auch Jill Vinicheck tanzen nach seiner Pfeife. Es passiert immer wieder, daß sie sagen, in der und der Frage seien sie noch unentschieden, ein paar Tage darauf aber eine ganz entschiedene Ansicht vertreten, in der sie dann unweigerlich übereinstimmen ... und ich glaube, das sind Wyverns Ansichten, wenn ich es auch nicht beweisen kann.«
»Sind die Ansichten denn gut?«
»Sehr gut manchmal, aber darum geht es nicht.«
Das Parlament ging in die Sommerpause. Polly und der Abgeordnete für Hoopwestern verbrachten den ersten Teil der Pause im Wahlkreis, wohnten in Pollys Haus und arbeiteten mit Mer-vyn und Orinda. Die vier waren, zum Besten der Stamm- wie auch der Wechselwähler, zu einem starken, harmonischen Team zusammengewachsen.
Dann machten mein Vater und Polly eine Reise um die Welt und durch ihre Hauptstädte, um sich über Hunger, Dünger und die Launen des Klimas zu informieren, und als sie zurückkamen, hatten sie ein recht genaues Bild davon, wie sich auf dem blauen Planeten Milliarden von Menschen ernährten.
Ich in meiner kleinen Welt in Wellingborough beschäftigte mich mit Zahlen und Risiken und zog wieder in meine Omawohnung, als die neuen Decken trocken waren.
Usher Rudd klemmte sich hinter einen Bischof. Alle außer Hochwürden atmeten auf.
Ich ritt im August einen Sieger und im September noch einen.
Keiner von uns ahnte, daß sich derweil aus kleinen, leisen Störungen ein dunkler Wolkenberg zusammenbraute. Ein Cäsar wird immer ermordet, hatte mein Vater einmal gesagt, und als das Parlament wieder zusammentrat, waren die Messer gewetzt.
Besorgt erzählte mein Vater Polly und mir, daß Hudson Hurst dem Premier die Parteiführung streitig machen wolle. Hudson Hurst gehe die Kabinettsmitglieder der Reihe nach um Unterstützung an. Elegant, wie er jetzt aufzutreten wisse, erkläre er ihnen mit schönen Worten, daß die Partei einen energischen, jüngeren Führer brauche, einen, der das Volk mitreiße und in der Lage sei, für die nächsten allgemeinen Wahlen in drei Jahren die Weichen zu stellen.
»Alderney Wyvern«, sagte ich, »führt die Feder.«
»Um Gottes willen«, meinte Polly entsetzt.
»Wyvern hatte von Anfang an vor, sich die Macht zu erschleichen«, sagte mein Vater.
»Dann halt ihn auf!« rief Polly aus.
Aber Hudson Hurst schied aus der Regierung aus und erklärte der Öffentlichkeit, die Mehrheit der Regierungspartei sei mit den Entscheidungen, die in ihrem Namen getroffen würden, nicht einverstanden, und er könne es besser.
»Halt ihn auf«, sagte Polly noch einmal. »Stell dich gegen ihn.«
Wir saßen zu dritt bei Polly am Küchentisch, überwältigt von der unverhofften Wendung der Ereignisse. Mein Vater hatte zwar angestrebt, eines Tages vielleicht Premierminister zu werden, sich darunter aber vorgestellt, friedlich die Amtsnachfolge anzutreten, nicht als Mitverschwörer in den Iden des März.
Da ihm Loyalität über alles ging, fuhr er in die Downing Street und stellte sich auf die Seite des Premierministers. Der Premier sah jedoch ein, daß die Partei einen Wechsel wollte, und entschloß sich zu gehen, sobald ein neuer Vorsitzender gewählt sei. Damit war der Weg für meinen Vater frei, sich um das höchste Amt zu bewerben. Er stellte sich dem Kampf.
An einem scheinbar harmlosen Dienstagmorgen im Oktober fuhr ich wie gewohnt zu Weatherbys und merkte, daß mich niemand ansah. Verwundert, aber nicht weiter beunruhigt, ging ich in mein Büro, und dort hatte mir ein freundlicher - oder unfreundlicher - Mitmensch eine Shout! auf den Schreibtisch gelegt. Aufgeschlagen in der Mitte.
Shout! war das Wochenblatt, das regelmäßig Usher Rudds giftigste Ausbrüche veröffentlichte.
Ein Foto zeigte nicht meinen Vater, sondern mich selbst, in Rennkleidung.
Die überdimensionale Schlagzeile hieß: Drogen! Darunter stand: »Der Rennen reitende Sohn unseres selbstherrlichen Ernährungsministers George Juliard wurde wegen Kokainkonsums von seinem Trainer gefeuert.«
Ungläubig las ich, wie es weiterging.
»>Er mußte weg<, sagt Sir Vivian Durridge. >Ich durfte nicht zulassen, daß ein fauler Apfel, ein Leimschnüffler und Rauschgiftesser, meinen geliebten Rennstall in Verruf bringt. Der Junge taugt nichts. Sein Vater tut mir leid.<«
Sein Vater, hob das Magazin hervor, sei einer der Kontrahenten in dem Machtkampf, der gegenwärtig die Regierungspartei spalte. Wie könne George Juliard sich als Ausbund an Tugend und sozialer Gesinnung hinstellen, wenn er als Familienvater versagt habe, da sein einziger Sproß drogenabhängig sei?
Mir war zumute wie bei Vivian Durridge an jenem Morgen vor fünf Jahren; ich spürte den Boden unter meinen Füßen nicht. Nach wie vor galt, daß ich niemals Leim geschnüffelt, gekokst oder andere Drogen konsumiert hatte, bloß war ich nicht mehr so naiv anzunehmen, daß alle Welt mir glauben würde.
Ich schnappte mir das Blatt und ging, Schritt für Schritt von aufmerksamen Blicken verfolgt, zum Büro des geschäftsführenden Direktors von Weatherbys. Er saß an seinem Schreibtisch. Ich trat vor ihn hin.
Das Magazin hätte ich nicht mitzubringen brauchen. Er hatte es bereits vor sich liegen.
»Das stimmt nicht«, sagte ich ohne Umschweife.
»Wenn es nicht stimmt«, erwiderte der Geschäftsführer, »warum sollte es ein Vivian Durridge dann behaupten? Vivian Durrid-ge gehört zu den angesehensten Leuten im Galopprennsport.«
»Wenn Sie mir einen Tag frei geben, gehe ich ihn fragen.«
Er sah mich nachdenklich an.
»Ich glaube«, sagte ich, »es handelt sich hier eher um einen Angriff gegen meinen Vater als gegen mich. Der Artikel stammt von einem Zeitungsschreiber namens Usher Rudd, der meinen Vater schon einmal zu diskreditieren versucht hat, und zwar vor fünf Jahren, als er sich um einen Abgeordnetensitz bemühte.
Mein Vater hat sich bei der Redaktion der Zeitung beschwert, und Usher Rudd mußte gehen. Das hier sieht mir nach Rache aus. In dem Artikel heißt es, mein Vater sei in einen innerparteilichen Machtkampf verwickelt, und das stimmt. Der Sieger dieses Kampfes wird der nächste Premierminister sein. Usher Rudd will verhindern, daß er George Juliard heißt.«
Der Direktor sagte noch immer nichts.
»Als ich mich bei Ihnen beworben habe«, sagte ich, »hat Ihnen Sir Vivian eine Empfehlung geschickt, und, ach ja« - ein Glück, daß mir das jetzt einfiel -, »er hat mir einen Brief geschrieben, den kann ich Ihnen zeigen ...« Ich wandte mich zur Tür. »Er ist nämlich hier im Haus, in der Versicherungsabteilung.«