Unsichtbar durch den Stadtgraben und sogar ein Stück die Pregnitz hinab? Durch die Grünanlagen und ein anschließendes Fischbecken? Um mich dann an die Schule oder wenigstens den Schulweg heranzukurbeln, um ein paar Brandsätze zu legen. Ich sah die ganze Sippschaft rennen, die Pohlmanns, Görtzen, Brüder Mittag, die Schulten, Fassers, Bährs und Büntigs. Verstört und wie von Sinnen aus der brennenden Schule flüchten. Vorsichtshalber fügte ich noch die Lehrer Rabemus und Meckel hinzu, die mir ebenfalls das Leben schwergemacht hatten. Außerdem war das Schulhaus immer ausnehmend häßlich gewesen — ein rotes Backsteingebäude mit unglaublich häßlichen gotischen Fenstern.
Was soll ich sagen, drei volle Tage kurbelte ich tatsächlich und körperlich in meinem tiefgehenden Gehäuse. Immer voran und voraus, immer mit dem Ziel vor Augen, und war danach so erschöpft, als hätte ich tatsächlich die ganze Strecke bewältigt.
Die Sache nahm leider ein unrühmliches Ende. Als nämlich der Ingenieur Wilhelm Bauer (1851) mit seinem «Seehund» eine erste Tauchfahrt im Kriegshafen von Kiel (Kieler Förde) unternahm und spurlos verschwand. Jedenfalls wurde das eigenwillig gebaute, mehr einem menschlichen Magen als einem Kriegsgerät gleichende Wasserfahrzeug künftighin nie wieder gesehen. Versank es, barst es in der Tiefe? Wurde es von den Engländern unter Wasser gekapert und nach Plymouth entführt? Man weiß es nicht. Im übrigen zogen wir, Vater, Mutter und ich, schon im darauffolgenden Herbst aus dem unseligen Minden fort — Vater hatte entweder seine Stellung in der Filiale verloren oder die Filiale wurde ganz geschlossen —, und das löste dann alle Probleme. –
Einzig mein kleiner Freund von der hinteren Bankreihe, den hatte es doch noch erwischt, er brach sich ein Bein. Angeblich war er eines schönen Tages in die «Kuhle» gesprungen — Natur kann grausam sein.
9
Lieber Freitag.
Jetzt weiß ich, wo du bist, du bist im Gefängnis.
– –
Gib es zu, entweder im Krankenhaus oder im Gefängnis, eins von beiden, anders ist es nicht zu erklären, wenn ich die Abstände nehme, die du angibst.
– –
Lieber Freund, da hilft kein Heulen und kein Zähneklappern, ich habe dich erraten, nein besser, ich habe dich errechnet, ohne jeden Zweifel, da hilft nichts.
– –
Entweder Sanatorium oder Strafanstalt, da sitzt du ein. In Neustrelitz?
Nein.
Ich glaube, doch!
– –
Du sagst, dein Nachbar schnarcht. Wie kannst du das wissen? Du sagst, er sei ein furchtbarer Prolet, er schnarche den Putz von den Wänden. Wenn er den Putz von den Wänden schnarcht, muß er ziemlich nahe liegen, gib es zu. Du bist in der Strafanstalt Neustrelitz (Justizvollzugsanstalt).
Nein.
Du bezeichnest deinen Nachbarn, der dir anscheinend sehr am Herzen liegt, als Proletarier ohne Vorhänge am Fenster, ohne Bilder an der Wand, ohne einen Blumentopf, den er haben könnte. Welches bedeutet, daß du einen hast. Einen Blumentopf.
Nein.
Mir ist bloß nicht klar, wie du tagtäglich an einen Computer kommst. Wahrscheinlich hast du einen Druckposten in der Anstaltsbibliothek, oder vielleicht in der Rechnungsstelle?
Du hast einen Kanarienvogel, sagst du, der Nachbar habe keinen, obwohl er sich einen zulegen könnte, der Prolet. Er habe sogar gedroht, deinem Vogel den Hals umzudrehen (den verdammten Hals), weil ihn das Gepiepse störe. Habe er gedroht!
– –
Was ist das? Stehen bei euch die Türen offen? Im Sanatorium sind die Türen zu, und es gibt keine Kanarienvögel, oder doch?
Ich weiß es nicht.
Bis zum Bahnhof sei es ein guter Spaziergang von zweitausend Schritt, sagst du, zweitausend. Anscheinend geben sie euch Brüdern viel zu viel Freigang. Neulich vor dem Bahnhof, wo du dir am Zeitungsstand jeden Samstag deine Zeitung kaufst, sagst du, komme dir der Kerl grinsend entgegen, grinse auf ganz gemeine Weise, tippe sich an die Stirn und dann quer über den Hals. Aha. Das bedeutet doch in einem Rotwelsch: Du hast einen Vogel, den werde ich kaltmachen. Das heißt es doch, gib es zu, und wieso kriegt ihr überhaupt so oft Hafturlaub, nächstens kriegt ihr noch Urlaubsreisen nach Kühlungsborn verordnet.
Wir kriegen gar nichts.
Ach nee.
Und den Kanari kannst du dir auch noch reinschieben.
Menschenskind, du sitzt in Neustrelitz, willst du das nicht endlich zugeben.
– –
Da käme höchstens noch eine Kleingartenkolonie in Frage. Die armen Schweine dürfen ja auch nichts, keine Bäume, keine Sträucher, und Kanarienvögel schon gar nicht.
*
Ich hatte mir sogar die Mühe gemacht, nach Neustrelitz zu fahren, weit war es ja nicht, um die Strecke vom Bahnhof bis zur Haftanstalt abzuschreiten: Es waren zweitausend Schritt.
Aber zuvor noch ein kleines Geständnis. Es war nicht das erste Mal, daß ich mir Neustrelitz ansah, und es war auch nicht das einzige Neustrelitz. Ich hatte von jeher eine Neigung zu Gefängnissen, sind sie doch, meiner Meinung nach, der einzig sichere Ort, an dem man sich aufhalten kann — ich meine, der wirklich sichere Ort, ich übertreibe gar nicht. Ich denke an die ungeheuerlichen Sicherheitsmaßnahmen, die zu bezahlen kein normal lebender Mensch in der Lage wäre, die Schutzmauern, die Schutzgitter, Messerdrähte, Stahltüren, der ganze ungeheuerliche Eisenbeton, den sollte man sich einmal vor Augen führen. Ganz zu schweigen von Alarmeinrichtungen, Besucherschleusen, Körperscannern, Schußkanälen, Wachttürmen, Geländeradar und Pupillenerkennungsmaschinen, ich kann die Aufzählung gar nicht beenden, und ich spreche noch nicht einmal von den Personalkosten, die zu zahlen sind. Die Kosten für die teuerste Hollywoodvilla wären ein Pappenstiel gegen diesen ungeheuerlichen Luxus.
Der umsonst zu haben ist! Auf Staatskosten!
Ein einziger zu Recht oder zu Unrecht ausgelöster Alarm mit all den weitgreifenden und auch weiträumigen Konsequenzen, habe ich errechnet, entspricht ohne weiteres dem Äquivalent einer Hochseeyacht. Und das möglicherweise zweimal am Tag. Denn das gleiche Instrumentarium, gedacht, um Leute am Ausbrechen zu hindern, ist natürlich gleichsam geeignet, Leute am Einbrechen zu hindern: Jemand drinnen ist gleich jemand draußen. Ich möchte behaupten, selbst die ehrenwerteste Gesellschaft (!) dürfte nicht in der Lage sein, dort einen Killer hineinzuschicken, außerdem wollen sie mich ja lebend und nicht tot. Soviel zum Lob deutscher Gefängnisse.
Größten Respekt zum Beispiel habe ich immer diesen rollenden Stachelwalzen über Türen und Mauern gezollt, die man nicht zu fassen kriegt. Hellblau, hellrosa, beige, irgendwie pädagogisch.
*
Habe also die zweitausend Schritt abgezählt. Durch den leicht aufwärts führenden Tunnel in die Schelfstraße links hinunter bis zum Mühlplatz vorbei am Gasthof Altendorfer Schleuse auf die Pinnower Chaussee und dann immer geradeaus. Stand mit dem zweitausendsten Schritt direkt vor dem Eingang. Der Beweis.
Es ist ein langgestreckter mehrflügeliger Komplex, flach in die Landschaft gesetzt und gar nicht augenfällig. Mehr wie eine große Chaussee wirkend. Die umgebenden Mauern gar nicht hoch, weil tief in das Gelände gesetzt, man sieht nicht, daß es sich um zwei konzentrische Ringe handelt, die ringsum Laufbahnen für Wachhunde umschließen. Eine eigentlich ganz hübsche Anlage, vor dem Pinnower Wäldchen. Ich habe sie in weitem Bogen umrandet, indem ich darauf achtete, nicht ins Schußfeld der sicherlich vorhandenen Gefechtsstände zu kommen. Habe mich auch hier über die auf den Mauerkranz gesetzten rotierenden Stachelrollen gefreut, die in der Sonne glitzerten. Wie Spielzeug eigentlich. Es herrschte ausgesprochen schönes Wetter an diesem Tag, die Birkenstämme des Wäldchens sahen sonntäglich frisch gewaschen aus, behagliche Stille, und ich konnte mir gut vorstellen, wie ich jetzt mit den Wärtern drinnen einen kleinen Umtrunk nahm. Wobei es sicherlich nicht schadete, auch einmal einen Champagner auffahren zu lassen, nicht wahr, auch einmal ein Kaviarbrötchen zum guten Beginn.