Ich habe das Projekt seinerzeit sehr wohl durchdacht, habe die vorhandenen Möglichkeiten aber auch Unmöglichkeiten durchgespielt und bin zu dem Schluß gekommen, mit Geld läßt sich alles machen. Man müßte versuchen, zwei, vielleicht sogar drei Zellen nebeneinander zu bekommen, in möglichst ruhiger Lage, also nicht gerade neben irgendwelchen Krakeelern. Ein paar Durchbrüche wären notwendig, ein paar Umbauten. Ich gehe davon aus, daß es sich um die genormte Zellengröße von drei mal dreieinhalb Metern Grundfläche handelt, mit Waschbecken, Klo, Bett, Stuhl und Tisch. Das muß natürlich gestaltet werden, ich brauche keine drei Klos. Und dann die Beleuchtung, die ist ganz unmöglich, also Leitmotiv: Bernstein. Dann die Materialien. Wir befinden uns immerhin im Gefängnis (Hochsicherheitsgefängnis), und da gibt es naturgemäß wenig Auswahl. Also gut, ich habe meine Gefängnisliteratur gelesen, in Falladas «Blechnapf» verwenden sie gekautes Brot in größeren Mengen, Schuhwichse, Teile von Kehrbesen. Naja. Im «Chateau d’If» ist es ausgekratzter Mauerstaub, ganze Wagenladungen davon, Gesteinssplitter, Splitter von Särgen. Ich weiß nicht, ob man in Neustrelitz so sehr viel davon erwarten kann. Es ist nur ein Spaß, obwohl ich hier tatsächlich ganz gern ernsthafte Überlegungen anstellen möchte. Im «Alcatraz» ist die Grundsubstanz, mit der gebaut wird, schon sehr viel realistischer, es sind Beziehungen! Es sind politische, lokale oder sonstwelche Beziehungen, die sich zum Einsitzen günstig auswirken. Nicht nur bestes Essen betreffend, auch Vorhänge, Mobiliar, selbst Wandverkleidungen, Gipsplatten zur Raumaufteilung und sanitäre Einrichtungen. Die Gefängnisleitung ist involviert, aber auch behördliche Einrichtungen außerhalb. Am deutlichsten wird die Antwort im «Goodfellah’s» gegeben, dort ist es Geld. Blankes, solides, ganz vordergründiges Geld, in genügender Menge und an den richtigen Stellen plaziert, wobei selbst diese, die Plazierung, einem soliden, festgeschriebenen Code unterliegt. That does the Job. Da werden selbst Glasfenster und Polstertüren geliefert. Eine Spiegel-Bar? Selbstverständlich. Es ist alles eine Frage der Größenordnung.
Jawohl, ich habe mich umgetan. Ich habe die Anstalten Malchow und Neuruppin in Betracht gezogen, die Anstalten Pritzwalk und Güstrow. Habe die Entfernung zum Bahnhof abgeschritten, dreitausend, viertausend, fünftausend Schritt, alles gute Spaziergänge. Alle Anstalten zumutbar, wenn auch atmosphärisch unterschiedlich. Malchow zum Beispiel zeigte sich sehr besucherfreundlich mit farbig gestalteten Schleusen und großem luftigen Besucherraum, eher an eine Kindertagesstätte erinnernd, auch mit entsprechendem Gebrüll erfüllt. Sagte mir nicht sonderlich zu. Atmosphärisch gab es natürlich noch ganz andere Kriterien, etwa die Geruchskulisse von säuerlich reinlich bis dumpfig angsterfüllt. Teilweise zugedeckt von frischen Farbanstrichen, trotzdem — das muß ich leider sagen — immer vorhanden. Oder die Geräuschkulisse, die allerdings war sehr unterschiedlich, und deshalb gebe ich alles in allem Neustrelitz den Vorzug: Das spezifische Knallen beim Einklinken der schweren eisernen Rollgitter. Welches man Besuchern im allgemeinen vorenthält, indem man zu Besuchszeiten eben nicht einklinkt. Nun, in Neustrelitz hatte man Gummistopper verwandt, und die minderten den Gesamtpegel natürlich ganz gewaltig.
Darf ich sagen, daß ich meine Hausaufgaben gemacht habe, ich glaube, ich darf.
Und nun frage ich dich noch einmal ernsthaft: Bist du (oder bist du nicht) im Gefängnis?
– –
Nein (was nein).
10
Lieber Freund.
Wer kann sagen, was der Mensch zu seinem Glück braucht, ist es Geld oder ist es Liebe. Darüber haben sich schon ganz andere Geister ausgelassen. Ich sage dir:
Es ist Liebe.
– –
Und das Geld.
*
Mein Vater hatte den Wunsch, daß ich Bankkaufmann lernte, und arrangierte für mich eine Lehre in der Lübschen Kredit- und Handelsbank. Nicht, daß er mich zwang, das war nicht seine Art, aber er hatte den Ausbildungsplatz arrangiert, und ich war mir auch nicht ganz sicher in meinen Berufswünschen. Genauer gesagt, erschien mir eine diesbezügliche Zukunft etwas farblos, ich konnte den Höhenflug von Giro und Inkasso, der mir bevorstand, nicht ganz nachvollziehen. Kreditbanken machten mir ein wenig Angst, Pfand- und Leihbanken auch, und was das Verschreibungswesen anging, das Wechsel- und Schuldgeschäft, sah ich mich bereits gestrandet. Ich sah mich an einem Klappult sitzen.
Aber ich wollte ja meinen Vater nicht enttäuschen. Wir waren inzwischen in eine größere Stadt gezogen — welche, möchte ich nicht sagen —, wo ich keinerlei Schwierigkeiten mit der Schule hatte, ich war dort kein Zugezogener, weil jeder irgendwie zugezogen war. Die einen kamen von …, die anderen von …
Eines Tages im Oktober, es war ein verhangener Tag, trat ich meine Lehre an, und fand mich zusammen mit fünf weiteren Anwärtern, alle etwas betreten, in der Schalterhalle der «Lübschen» ein. Die ihrerseits mit ihren Granitsäulen und den hochangebrachten kunstvoll vergitterten Fenstern einiges zum Betretensein beisteuerte. Vater hatte mir zum Antritt einen korrekten dunklen Anzug ausgesucht, anthrazit mit feinen Streifen und irgendwie zu eng, ich meine, er paßte, er war speziell für meine Ausbildung in der Bank gekauft, nur daß ich mich darin nicht bewegen konnte. Tut mir leid. Und wie ich sah, waren meine fünf Kollegen in so ziemlich derselben Verfassung.
Nun muß man wissen, daß im Bankwesen entgegen aller Zeitmode auf seriöse Erscheinung gehalten wird. Korrekter Nadelstreifen auch für die Lehrlinge, ich will nicht sagen als Kleidervorschrift, aber eigentlich doch. Und so standen wir dann als kleine uniformierte Dunkelmänner in der Halle, als die Schalter geöffnet wurden, und sahen beklommen aus, in unseren Anzügen. Sechs blasse Lebenskünstler. Nachmittags gingen wir auf die Berufsschule.
«Was hattet ihr denn heute Schönes?»
«Den Lombard.»
Da war mein Vater dann zufrieden.
*
Vater gab selbst das beste Beispiel, ging Punkt acht Uhr zehn aus dem Haus, um acht Uhr dreißig bei seiner Bank einzutreffen — es war nicht die meine —, in der Vossischen Handelsbank, einer relativ kleinen Privatbank in der vierten Etage eines Geschäftshauses in der Kaiser Allee (jetzt weiß man, um welche Stadt es sich handelt). Ich habe ihn einmal dort besucht, ein Messingfahrstuhl brachte mich direkt in die Etage, die wie eine Unterwasserwelt bläulich beleuchtet war. Er hatte kein eigenes Arbeitszimmer, anscheinend bewegte er sich in mehreren Bereichen, jedenfalls tranken wir unseren Kaffee in einer bläulichen Nische im Flur.
Sagte ich acht Uhr zehn? Ich habe auf die Uhr gesehen, es war immer genau acht Uhr elf, wenn er die Wohnung verließ, und er trug immer den gleichen schwärzlichen Anzug, von dem er aber anscheinend mehrere gleiche besaß. Ich glaube, er hatte eine Methode, die blanken Stellen an Ellenbogen und Unterarm mit Hirschhornsalz zu behandeln, damit die Anzüge immer neu aussahen, jedenfalls sah ich ihn einmal in der Küche damit hantieren. Acht Uhr elf hin und Punkt fünf Uhr dreißig zurück, denn Mutter war damals schon sehr krank, und die Hilfe verließ fünf Uhr dreißig das Haus.
Jede Woche einmal, zumindest aber jede zweite Woche mußte mein Vater verreisen. Er blieb dann über Nacht weg und kam am zweiten Tag sehr spät nach Hause, von Mutter immer sehr besorgt empfangen — ich bin mir nicht sicher, ob sie Genaueres über seine Tätigkeit wußte, wahrscheinlich nicht. Ich wußte es auch nicht, einmal aber sah ich seinen Aktenkoffer, ein eckiges funktionelles Ding, offen auf dem Schreibtisch stehen: Innen war er mit einem Stahlnetz ausgeschlagen, er hatte zwei Zahlenschlösser, innen auch noch eines, das ein gesondertes Fach versperrte. Offenbar war der Mann mit größeren Geldbeträgen unterwegs. Eine Kette fürs Handgelenk gab es nicht, dafür aber einen merkwürdigen schwarzen Ring am Griff. Mein Vater transportierte Geld? Ein Geldträger?